Editorial

Wirkstoff des Monats: Ein universelles Gegengift?

von Karin Hollricher (Laborjournal-Ausgabe 3, 2024)


Symbolbild Wirkstoff des Monats

(21.03.2024) Jedes Jahr werden bis zu 2,7 Millionen Menschen von giftigen Schlangen angegriffen. Zwischen 80.000 und 140.000 sterben daran, bei vielen Überlebenden bleiben chronische Schäden zurück. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Schlangenbisse zu den tödlichsten vernachlässigten tropischen Krankheiten.

Armut, schlechte medizinische Versorgung in entlegenen Regionen, zu geringe Produktion von Gegengiften sind einige der Gründe, warum so viele Menschen auch heute noch an Schlangenbissen sterben. Ein weiterer ist die enorme Vielfalt an toxischen Molekülen, die in den komplexen Giftmischungen der gut 100 für den Menschen gefährliche Arten enthalten sind.

Der schützende Anteil eines Antiserums besteht aus Antikörpern, welche man bislang aus immunisierten Schafen und Pferden gewinnt. Um ein möglichst universell wirkendes Antiserum herzustellen, kann man natürlich verschiedene Seren mischen. Die moderne Forschung nutzt indes Hefe- und Phagen-Display-Bibliotheken mit synthetischen humanisierten Antikörper-Teilen, um ein Molekül zu isolieren, das möglichst viele Antigene abdeckt. Aus einer solchen Bibliothek selektierte eine Forschergruppe vom Scripps Research Institute in La Jolla (USA) kürzlich mehrere Fab-Antikörper, die langkettige Drei-Finger-Toxine (3FTx) verschiedener Schlangenarten neutralisieren können (Sci. Transl. Med., 16: eadk1867).

3FTx-Moleküle sind Toxine, die Acetylcholin-Rezeptoren auf Muskel- und Nervenzellen besetzen. Giftschlangen wie Kobras und Mambas synthetisieren verschiedene 3FTx-Versionen. Der beste von den Scripps-Forschern gefundene Antikörper, der mehrere 3FTx-Varianten neutralisieren kann, ist ein Molekül namens 95Mat5. Dieser Antikörper bewies seine Wirksamkeit im Versuch mit Mäusen: er schützte die Tiere vor den Giften der in Südostasien beheimateten Monokelkobra (Naja kaouthia) und Königskobra (Ophiophagus hannah) wie auch vor demjenigen der aus Afrika stammenden Schwarzen Mamba (Dendroaspis polylepis). Offensichtlich bindet er an konservierte Epitope auf eigentlich unterschiedlichen 3FTx-Molekülen. Und da er ein humanisierter Antikörper ist, besteht auch nicht die Gefahr einer allergischen Reaktion, die bei der Gabe von tierischen Antikörpern auftreten kann.

Auch die Arbeitsgruppe von Andreas Laustsen-Kiel von der Technischen Universität von Dänemark sucht mit Phage-Display-Methoden nach universellen Gegengiften. Sie fand in ihrer Bibliothek den Antikörper B08, der die Wirkung des Enzyms Phospholipase A2S von drei Viper-Gattungen neutralisieren und die Muskelzellen von Mäusen schützen kann (Toxicon, 234: 107307).

Allerdings sagt ein solcher Test noch nichts darüber aus, ob sich der Antikörper auch als Gegengift eignet. Dies musste Christoffer Sørensen, ein Mitglied des Laustsen-Teams, feststellen. Er hatte einen weiteren Antikörper namens B12 gegen das Myotoxin der in Süd- und Mittelamerika beheimateten Terciopelo-Lanzenotter (Bothrops asper) entwickelt. Für die Versuche mischte Sørensen den Antikörper mit dem Gift und behandelte damit in vitro Muskelzellen von Mäusen sowie lebende Mäuse. Die Immunglobuline taten ihr gutes Werk. Dann testeten die Forscher den B12-Antikörper in einem Rescue Assay. Dabei wird die Maus erst vergiftet und anschließend mit dem Gegengift behandelt. Dies entspricht dem zeitlichen Ablauf eines echten Schlangenbisses. Dieses Experiment endete mit einer sehr unliebsamen Überraschung: der Antikörper verstärkte nämlich die Wirkung des Gifts, statt davor zu schützen (Nat Commun, 15(1): 173). Diese Reaktion nennt man Antibody-Dependent Enhancement of Toxicity (ADET). Erklären können sich die Forscher dieses ernüchternde Ergebnis bisher nicht.

Der Rescue Assay mit 95Mat5 war übrigens erfolgreich: Dieser Antikörper bewahrte die 20 Minuten zuvor vergifteten Mäuse zu 100 Prozent vor neurotoxischen Symptomen.

Nun enthalten allerdings die Gifte vieler Schlangenarten unterschiedliche Toxine und toxische Enzyme. Selbst innerhalb einer Spezies können die Substanzen der Giftcocktails erheblich variieren. Die Gabe nur eines einzelnen Antikörpers nach einem Schlangenbiss ist also nicht unbedingt lebensrettend. Vermutlich muss ein wirksames Gegengift mindestens vier oder fünf Antikörper gegen verschiedene Komponenten der Giftcocktails enthalten. Es ist also noch ein weiter Weg zum universellen Gegengift aus monoklonalen humanisierten Antikörpern.