Editorial

Wenn viel zitiert, dann Krebs

Publikationsanalyse 2011-2020: Lungen- und Atemwegsforschung
von Mario Rembold, Laborjournal 11/2022


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Illustr.: AdobeStock / Orlando Florin Rosu

(09.11.2022) Obwohl Lunge und Atemwege für eine Vielzahl verschiedener Erkrankungen anfällig sind,wird auch dieser Publikationsvergleich wieder stark von der organspezifischen Onkologie dominiert.

Auseinendergefaltet und plattgedrückt soll die menschliche Lunge etwa 100 Quadratmeter bedecken. Ob das jemals wer ausprobiert und nachgemessen hat? Jedenfalls stellt unser weit verästeltes Respirationssystem eine gigantische Oberfläche zum Gasaustausch zur Verfügung, und idealerweise überschreiten nur Sauerstoff und CO2 diese Barriere.

Leider sind die unteren Atemwege aber auch empfänglich für allerlei Krankheitserreger und Umweltgifte – und somit auch für diverse krankhafte Veränderungen. Neben dem Befall durch Viren und Bakterien kann das Bronchialsystem etwa auch Spielball chronischer Erkrankungen werden, zum Beispiel von ­Asthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) oder von Fibrosen, also dem verstärkten Wachstum von Bindegewebe.

Funktionell und auch physikalisch ist die Lunge eng mit dem Herzen verbunden – beide bilden sogar ein eigenes kleines Zirkulationssystem, den Lungenkreislauf. Ist der Blutdruck hier erhöht, bringt das den Lungenfacharzt thematisch nah an die Kardiologie heran. Jedoch: In unseren Publikationsvergleichen haben die Herz-, Gefäß- und Kreislaufforscher ihren eigenen Platz. Zur Regulation des Blutdrucks gibt es außerdem Experten aus den Reihen der Nieren- und Hochdruckforscher und aus der Endokrinologie. Die pulmonale Hypertonie fällt allerdings dennoch in die Zuständigkeit der Lungenfachleute.

Hiermit haben wir bereits einige mögliche Überlappungen der Lungenforschung mit anderen Disziplinen abgesteckt. Weiterhin gibt es natürlich noch die Onkologie, deren Protagonisten ja im Rahmen unserer Publikationsanalysen ebenfalls ihre eigene Bühne bekommen. Wer folglich ganz allgemein an der Entstehung von Krebs interessiert ist, gehört hier nicht hinein – vielmehr sollte die Lunge klar im Fokus stehen. Weil aber Forscherinnen und Forscher, die Bronchialkarzinomen auf der Spur sind, fast immer über ihre Institutsbezeichnung klarmachen, welches Organ für sie im Vordergrund steht, fiel uns die Abgrenzung in den meisten Fällen leicht.

Grenze zur Krebsforschung

So schauen wir beispielsweise beim Standort Heidelberg immer sehr genau hin, wer dort allgemein der Krebsforschung zuzurechnen ist, denn wegen der räumlichen Nähe zum Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) wäre das kaum überraschend. Dort aber sind vier Namen aus der Liste der meistzitierten Lungenforscher (S. 35) explizit der Thoraxklinik der Uni Heidelberg zugewiesen – allen voran Martin Steins auf Platz 11. Tatsächlich forschen sie alle am Lungenkrebs, und insbesondere Thomas Muley (14.) publiziert dabei gern auch mal generell zu molekularen Krebs­profilen. Aber das zentrale Interesse am Organ ist bei allen vieren so offensichtlich, dass wir sie in erster Linie als Lungenforscher sehen. Überhaupt finden wir bei fast der Hälfte unserer dreißig meistzitierten Köpfe entweder einen hohen Anteil an Publikationen zum Lungenkrebs – oder zumindest waren deren meistzitierte Artikel onkologisch geprägt.

Natürlich gibt es doch mal den einen oder anderen Kandidaten „zwischen den Welten“. So etwa, ebenfalls aus Heidelberg, den Radiologen Hans-Ulrich Kauczor (25.). Er durchleuchtet auch mal ein Gehirn oder ist an Publikationen zum Prostatakrebs beteiligt. Jedoch sitzt Kauczor im Vorstand des Deutschen Zentrums für Lungenforschung und ist dort Direktor des Standorts Heidelberg. Ein Allrounder also, aber mit klarer Vorliebe für die Atemwege.

Auch die Überlappung zur Genomik war keine große Hürde. Roman Thomas (17.) und Martin Pfeifer (26.) sind zwar beide in der Abteilung Translationale Genomik der Universität Köln tätig, doch beide widmen einen deutlichen Anteil ihrer Publikationsaktivität ebenfalls den speziellen Tumoren der Lunge. Humangenetiker ohne derart klaren Lungen-Schwerpunkt haben wir dagegen außen vor gelassen.

Nun wirft nicht jedes onkologische Paper viele Publikationen ab; umgekehrt gilt aber durchaus: Wenn ein Artikel aus einer organbezogenen Disziplin hohe Zitierzahlen hat, dann ist es häufig eine Arbeit über Krebs. Im vorliegenden Lungen-Vergleich schlägt sich das in der Tabelle der meistzitierten Artikel so deutlich nieder wie in kaum einer anderen organbasierten Disziplin: Acht Paper der Top Ten drehen sich um Lungenkrebs – und fast alle sind klinische Studien, die die Wirksamkeit unterschiedlicher Therapien vergleichen. Nur die onkologisch ausgerichteten Artikel auf Platz 7 und 10 haben einen humangenomischen Hintergrund und präsentieren molekulare Profile der Tumorzellen.

Aus dieser Reihe heraus fällt hingegen die am fünfthäufigsten zitierte Forschungsarbeit: Hier suchten die Autoren global nach Referenzwerten für Lungenfunktionstests. Der zweite nicht-onkologische Lungenfachartikel landet auf Platz 8 und testet eine pharmakologische Therapie bei Lungenfibrose.

In der Autorenliste des meistzitierten Artikels finden wir den bereits erwähnten Martin Steins aus Heidelberg, der trotz seiner insgesamt annähernd 14.000 Zitierungen die Top Ten knapp verfehlt. Ganz vorn auf Platz 1 steht Martin Reck, ebenfalls mit onkologischem Schwerpunkt tätig an der LungenClinic in Großhansdorf bei Hamburg. Stattliche 37.799 Zitierungen landeten auf seinem Konto, obwohl sein meistzitiertes Forschungspaper bei „nur“ knapp 5.600 Erwähnungen liegt und damit auf Platz 2 der Artikel-Liste.

Gehen wir die Liste der meistzitierten Köpfe weiter durch, stoßen wir auch hier wieder auf ein generelles Problem unserer Publikationsvergleiche. Treue Leserinnen und Leser dieser Rubrik wissen, dass wir Beiträge zu Leitlinien, Klassifikationen und zur Konsensfindung grundsätzlich den Reviews zuordnen, selbst wenn sie in der Datenbank des Web of Science häufig als „Articles“ markiert sind. Schade finden wir, dass diese Zuordnung innerhalb der Datenbank nicht einheitlich gehalten wird. Während die Klassifikation zum Lungenhochdruck auf Platz drei auch laut Web of Science als Review gilt, zählen die Guidelines auf den Plätzen 1 und 2 dort als Articles. Folglich bringen die über 3.000 Zitierungen des drittstärksten Reviews dem Mit-Autor Hossein Ardeschir Ghofrani nichts für seine Wertung im Forscher-Ranking, während sich Jürgen Behr aus München die 4.733 Zitierungen des meistzitierten Reviews auch für seine Zitierungen in der Köpfe-Tabelle gutschreiben darf.

Ghofrani dürfte dies allerdings gelassen sehen, denn der Gießener Lungenhochdruck-Experte steht trotzdem souverän auf Platz 4, während Behr auf Platz 19 rangiert. Außerdem darf Ghofrani dafür seine Zitierungen aus dem Review auf Platz 2 behalten. Es ist also ein bisschen wie im Fußball: Der Schiedsrichter entscheidet nicht immer gerecht, aber unterm Strich gleichen sich Vor- und Nachteile wohl aus.

Verschiedene Zitier-Potenziale

Ohnehin sollte man als Forscherin oder Forscher nicht allzu viel sportlichen Ehrgeiz in die Zitierzahlen legen. Sie mögen ein Indikator dafür sein, was die Community gerade besonders interessiert. Widmet sich etwa ein besonders großer Teil der „Köpfe“ dem Lungenkrebs, so werden bestimmte Arbeiten hierzu natürlich auch ziemlich häufig zitiert. Das bedeutet – und wir können es nicht oft genug betonen – selbstverständlich nicht, dass weniger beachtete Paper eine schlechtere Qualität hätten. Manchmal werden sie auch Jahre später erst klinisch relevant (denken wir an die mRNA-Impfstoffe).

Zwar unterstellen wir generell eine gewisse Qualität, wenn eine Arbeit häufig zitiert wird, es bleibt aber das Problem der Vergleichbarkeit. Beispielsweise ist Cezmi Akdis (6.) vom Institut für Allergie- und Asthmaforschung in Davos Immunologe und wird daher innerhalb der „Lungen-Community“ natürlich von ganz anderen Kollegen zitiert als einer der eben erwähnten Lungenkrebs-Experten. Auch wenn wir uns um eine möglichst klare Abgrenzung der einzelnen Disziplinen voneinander bemühen, so sind selbst innerhalb eines Feldes die Forschungsinteressen in der Regel so weit aufgefächert, dass qualitative Vergleiche der Zitierzahlen schwierig bleiben.

Wohin mit den Epidemiologen?

Und da wir gerade bei der Vergleichbarkeit der ermittelten Zahlen, Daten und Fakten sind, müssen wir speziell im Lungenforschungs-Vergleich einräumen, dass uns eine Teilgruppe besonders herausgefordert hat: Die Epidemiologen. Bei Joachim Heinrich auf Platz 3 war die Sache klar, denn sein Thema ist nicht nur die Luftverschmutzung, sondern vielmehr sind 67 seiner Artikel in Web of Science auch explizit der Kategorie „Respiratory System“ zugeordnet. Auch Nicole Probst-Hensch (18.) vom Schweizer Tropen- und Public Health Institut TPH in Basel können wir auf diese Weise einen deutlichen Bezug zu Atemwegserkrankungen unterstellen. Am selben Institut arbeitet auch Christian Schindler (23.), doch sein Fokus ist schon weiter gefasst. Andererseits schlägt es sich bei insgesamt 222 Artikeln dann doch nieder, wenn er immer wieder auch zu Allergien und Atemwegserkrankungen publiziert.

Unseren letzten Publikationsvergleich zur Lungen- und Atemwegsforschung erstellten wir im Jahr 2016. Damals hatte sich im Nachgang Heinz-Erich Wichmann gemeldet und angemerkt, dass er nicht berücksichtigt worden sei, sodass wir ihn später nachgetragen haben. Jedoch wäre er nach den oben angedeuteten Kriterien gar nicht als Lungenforscher in unserem Filter „hängengeblieben“: Wir würden ihn demnach eigentlich als Humangenetiker und Epidemiologen wahrnehmen, der beispielsweise Zusammenhänge zwischen genomischen Markern und Körpergröße erforscht. Andere seiner Arbeiten handeln von Gen-Loci zur Makula-Degeneration oder zur Immunität. Da Wichmann sich selbst aber innerhalb der Community der Lungenforscher sieht, respektieren wir das, können dann aber nur schwer begründen, jemanden wie Christian Schindler herauszunehmen. Zu betonen ist aber, dass Wichmann die wenigsten der knapp 33.000 Zitierungen im Bewertungszeitraum seinen Beiträgen zur Atemwegsforschung verdankt – obwohl er insgesamt mit deutlichem Abstand zu Joachim Heinrich den zweiten Platz belegt.

Fairerweise seien daher noch drei Namen erwähnt, die jeweils mit um die 8.000 Zitierungen dicht beieinanderliegen und die Liste der meistzitierten Köpfe nur knapp verpasst haben: Philipp Schnabel aus Homburg, Stefan Niemann aus Borstel sowie aus Heidelberg Helge Bischoff.

Zum Schluss ein Blick auf die regionalen Schwerpunkte. Vorne stehen Heidelberg und München mit jeweils fünf Forschern. Die Schweiz ist mit Basel und Davos insgesamt viermal vertreten, während Österreich zwei Köpfe aus Wien zu bieten hat: Walter Klepetko (16.) und Maximilian Hochmair (30.). An der Ludwig-Maximilians-Universität in München arbeitet übrigens auch eine der beiden einzigen Frauen unter den Top 30, nämlich die Kinderärztin und Allergologin Erika von Mutius (29.). Von der zweiten Frau im Bunde, Nicole Probst-Hensch aus Basel, war bereits oben die Rede.


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Letzte Änderungen: 09.11.2022