Editorial

Die Multi-Analytikerin

Ralf Neumann


Grob gerasteres Porträtbild der zu erratenden Forscherin

(21.03.2024) Die Umstände ihrer Zeit machten es unserer Gesuchten unmöglich, einfach nur Pionierin ihrer Forschungsdisziplin zu sein.

Junker Herbst ist alt geworden!
Alter fällt ihm schwer;
Denn Gebrechen aller Orten
Quälen ihn gar sehr:

Zähne sind ihm ausgefallen,
Gicht zwickt an der Zeh‘!
Und der Magen in der Mitte Tut erbärmlich weh.

Ja, gedichtet hat sie auch, unsere Gesuchte. 1902 wurden diese ihre Zeilen veröffentlicht. Allerdings füllte sie zeit ihres Lebens mit Natur-Poesie noch die wenigsten Seiten. Ungleich mehr schrieb sie über physiologische Chemie, über Wissenschaftsethik und Humanismus sowie über Antimilitarismus und Frauenrechte. Am Ende waren es Abertausende von Seiten.

Sicherlich hatte das Umfeld, in das sie 1878 in einer Stadt am Nordwestrand der Alpen hineingeboren wurde, einen prägenden Anteil an dieser Vielfalt. Ihr Vater lehrte an der dortigen Universität Geschichte und lud seine Hörerinnen und Hörer gerne zu ausgedehnten Diskussionen in sein Haus ein. Darunter waren etwa Rosa Luxemburg sowie Lenin und Trotzki.

Trotz dieser Einflüsse entschied sich die Professorentochter für die Naturwissenschaften. Im Alter von knapp 25 Jahren doktorierte sie mit „summa cum laude“ in den Fächern Chemie, Physik und Botanik. Schon damals hatte sie beschlossen, unter anderem aus tiefer Abneigung gegen alles Häusliche, niemals eine Partnerschaft, geschweige denn eine Ehe einzugehen. Schließlich müsse man dann dauernd für andere kochen und putzen. Tee und Kaffee soll sie ihr Leben lang auf dem Bunsenbrenner gekocht haben.

Ihr großes Interesse an den Vorgängen des Lebens hatte sie schon früh die entscheidende Bedeutung der physiologischen Chemie – der heutigen Biochemie – erkennen lassen. Nach einem entsprechenden Studienaufenthalt in Berlin erhielt sie bereits 1907 die Lehrbefugnis an der Universität ihrer Heimatstadt. Damit war sie die erste Privatdozentin für Chemie an einer deutschsprachigen Hochschule. Ihre Antrittsvorlesung hielt sie über ihr künftiges Forschungsgebiet: die Katalyse.

1911 gründete sie „ihr“ Laboratorium für physikalisch-chemische Biologie, das sie vierzig Jahre lang leitete. In dieser Zeit veröffentlichte sie Arbeiten über Peroxidase und Katalase sowie viele Testmethoden für Naturstoffe – darunter insbesondere Farbreaktionen an Sterinen, die die Grundlagen für die Entwicklung von Nachweismethoden für Steroide und Vitamin D legten. Noch mehr Eindruck jedoch machte sie mit dem Verfassen umfangreicher wissenschaftlicher Monographien, die am Ende zusammengenommen mehr als fünftausend Seiten umfassten. Hauptthemen dieser Werke waren natürlich die chemische und biologische Katalyse, aber auch Alkaloide oder Verdauungssäfte.

Doch damit noch lange nicht genug. Bereits 1917 publizierte die Multi-Schreiberin, dass bleihaltiges Benzin für den Menschen schädlich sei – und machte Vorschläge für dessen bleifreie Herstellung. Im selben Jahr trat sie in mehreren gesellschaftspolitischen Texten für die Gleichstellung der Frau ein – unter anderem mit den heute noch verwendeten Slogans „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ und „Gleiche Pflichten, gleiche Rechte“. Feministische Forderungen, die sich für sie selbst nur sehr zögerlich erfüllten: Erst 1933 wurde sie im Alter von 55 Jahren zur Extraordinaria berufen. Dies ging damals nicht einmal von ihrer Universität aus, sondern geschah letztlich aufgrund der eindringlichen Forderungen zahlreicher internationaler Kollegen, die sie schon lange als eine „Pionierin der Biochemie“ ausgemacht hatten.

Von jeher eng verbunden mit ihrem Engagement für Frauenrechte – sie rief etwa auch einen Verein für das Frauenstimmrecht in ihrem Heimatland ins Leben – waren die Aktivitäten unserer Gesuchten gegen den Krieg. Schon zu Beginn ihrer akademischen Laufbahn war sie zur Mitgründerin der Women‘s International League for Peace and Freedom geworden. Seitdem wandte sie sich weltweit in Vorträgen, Aufsätzen und Aktionen gegen die Verwendung chemischer und biologischer Waffen – und später auch gegen den Atomkrieg. Insbesondere nachdem in Fritz Habers Berliner Chemie-Labor Senfgas für den verheerenden Einsatz im Ersten Weltkrieg entwickelt worden war, wurde sie zur unermüdlichen Warnerin, dass die Wissenschaft sich nicht für Kriegszwecke einspannen lassen sollte. Von Politikern weltweit verlangte sie, Gaswaffen zu verbieten; einmal durfte sie dies sogar vor der UNO-Vollversammlung vortragen.

In Würde zu altern, war der aufrechten Biochemikerin jedoch leider nicht vergönnt. Ab Mitte Achtzig nahm ihre Verwirrung rapide zu, selbst ihre Familie bezeichnete sie als „verrückte Tante“. Und zunehmend holten sie ihre alten Dämonen ein. „Im Alter sieht sie überall kranke Baumblätter, die vom Bleibenzin vergiftet wurden“, schrieb etwa eine Zeitung über sie. „Wenn sie ein Flugzeug sieht, fürchtet sie sich vor einem Giftgasangriff.“ Sie starb schließlich im Alter von knapp 90 Jahren in einer Nervenheilanstalt, die alle nur „das Irrenhaus“ nannten.

Wie heißt sie?






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Im Rätsel ist gefragt nach Gertrude Woker, die in Bern als Pionierin der Katalyseforschung die Biochemie voranbrachte. Ebenso bekannt wurde sie als Aktivistin für die Gleichstellung der Frau und leidenschaftliche Gegnerin der Forschung zu Kriegszwecken.