Editorial

Videothek statt Bibliothek

Methoden richtig umsetzen – mit JoVE

Björn Brembs


Bis in die 90er Jahre war es üblich, dass man in die Bibliothek dackeln musste, wenn man Informationen zu einer bestimmten Methode suchte. Heute reicht dazu ein Klick auf die Webseite der „Methoden-Videothek“ JoVE.

Seit zwei Wochen arbeiten zwei Studenten (Ben und Marc, 2. Semester) an einem kleinen Seitenprojekt in unserer Arbeitsgruppe am Institut für Neurobiologie der Freien Universität Berlin. Sie untersuchen, welchen Einfluss Flügelschäden auf die Photo- und Geotaxis (Fortbewegung zum Licht oder entgegen der Schwerkraft) von Drosophila melanogaster haben. Sie werden einwenden, dies sei ein alter Hut, Sie hätten derartige Experimente schon als Kind mit der Stubenfliege Musca domestica durchgeführt. Mag sein. Doch werden Sie die Experimente kaum so systematisch angelegt haben wie Ben und Marc, und zudem von Ihrer Mutter eine Ohrfeige erhalten haben. Ben und Marc verwenden die klassische Apparatur für die schnelle Phototaxis, die vom Begründer der Drosophila-Neurogenetik, dem 2007 verstorbenen Seymour Benzer, nach dem Gegenstromprinzip entworfen wurde (Behavioral mutants of Drosophila isolated by countercurrent distribution. PNAS USA. 58(3):1112 1967).

Nicht nur Stereotypen

Schon in der Schule oder in den ersten Semestern des Biologiestudiums bekommt man beigebracht, dass es sich bei diesen Taxis-Verhaltensweisen grundsätzlich um einfache, stereotype Input-Output-Funktionen handele: da gibt es den Reiz und der löst im Tier eine gerichtete Reaktion aus – und zwar immer die gleiche. Derartig reflexartige Reiz-Reaktions-Schemata gelten als im Gehirn fest verdrahtete Einheiten.

Doch wie so oft: das wirkliche Leben ist nicht so einfach, wie man es in der Schule lernt. Schon mit ihren ersten Experimenten haben Ben und Marc eine Beobachtung reproduziert, über die bereits 1918 berichtet worden war: Selbst so einfache, stereotype Verhaltensweisen wie Photo- oder Geotaxis können sich in Abhängigkeit von der Flugfähigkeit der Tiere verändern. Als wüssten die Tiere, dass es wenig Sinn macht, mit funktionslosen Flügeln auf das Licht zuzulaufen oder den höchsten Punkt zum Abflug zu erklimmen, zeigen die flugunfähigen Tiere eine deutliche Reduktion in ihrer Photo- und Geotaxis, vulgo: sie klettern langsamer und weniger zielstrebig. Andere Forscher haben berichtet, dass eine weitere für viele Zweiflügler (Dipteren) typische Verhaltensweise, der hauptsächlich von einem einzigen, paarig angelegten Riesenneuron vermittelte Fluchtreflex (giant-fiber mediated escape response), bei flugunfähigen Tieren reduziert ist.

Diese Flexibilität überrascht, denn sie widerspricht der Annahme einer festen Verdrahtung. Eine Erklärung der in den Experimenten von Ben und Marc beobachteten Reduktion der Photo- und der Geotaxis bei Flugunfähigkeit wäre, dass gestutzte Tiere generell langsamer laufen als intakte, also unabhängig von Licht oder Schwerkraft, sie sind einfach fauler. Das passt jedoch nicht zu Berichten, dass Tiere mit einer geringeren Maximalgeschwindigkeit im Prinzip eine stärkere Phototaxis zeigen können, als entsprechend schnellere Tiere. Dieser unklare Zusammenhang zwischen Taxis und Laufgeschwindigkeit bedeutet, dass wir jeden einzelnen Stamm nicht nur auf Photo- und Geotaxis testen müssen, sondern unabhängig davon auch auf ihre generelle Laufgeschwindigkeit.

Wir brauchen also nicht nur Methoden zur Erfassung der Photo- und Geotaxis, sondern auch eine Methode, die die Laufgeschwindigkeit mißt. Denn wir müssen die Geschwindigkeit intakter Fliegen der von Fliegen mit gestutzten (oder genetisch nutzlos gemachten) Flügeln gegenüberstellen können. Da das Ganze erst einmal als studentisches Seitenprojekt läuft, sollte es eine unkomplizierte und Ressourcen-schonende Methode sein.

Laufgeschwindigkeitsmessung per Video

Laufgeschwindigkeitsmessung per Video: Wer läuft schneller durch die Plexiglaskammer, Fliegen mit intakten, oder Fliegen mit gestutzten Flügeln?

Als ich bei dieser Erkenntnis angelangt war, bemerkte ich zu meinem Schrecken, dass der Abgabetermin dieses Artikels in bedrohliche Nähe gerückt war. Wie jetzt schnell zu einer Methode zur Messung der Laufgeschwindigkeit kommen? Ogottogott! Gott? Jove! Das war’s! Ich suchte auf jove.com nach geeigneten Videos über spannende Methoden mit tollen Bildern. Ich stieß auf den Beitrag „High-Resolution Video Tracking of Locomotion in adult Drosophila melanogaster“ von Justin Slawson und Eugene Kim im Labor von Leslie Griffith an der Brandeis University (JoVE. 24. http://www.jove.com/index/Details.stp?ID=1096, doi: 10.3791/1096).

In diesem Video erklären die Autoren anschaulich, wie man das Problem der Laufgeschwindigkeitsmessung angehen kann. Die Fliegen laufen in flachen, durchsichtigen Plexiglas-Behältern und werden dabei von einer Videokamera aufgenommen. Praktisch ist, dass die Kammer in zwei Abschnitte unterteilt werden kann, so dass man zwei Populationen von je zehn Fliegen gleichzeitig aufnehmen und vermessen kann. Nach dem Experiment werden die Videos ausgewertet und unter anderem wird die Laufgeschwindigkeit berechnet. Die Behälter könnte unsere Feinmechanikwerkstatt herstellen, eine Webcam würde zur Aufnahme ausreichen und die Software wäre zum Großteil als Freeware beziehungsweise unter OpenSource kostenlos zugänglich. Das JoVE-Video mit der Methode ist nur neun Minuten lang und das zugehörige PDF-Dokument enthält alle Details und Maße, die man zur Umsetzung benötigt. Die Methode von Slawson et al. scheint einfach und ausgereift. Wenn sie funktioniert, produziert sie genau die Daten, die wir benötigen. Gleich morgen früh gehe ich in die Werkstatt und rede mit dem Meister.

Anschauungsunterricht

Innerhalb von Minuten hatte ich also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: ich wusste genau, was wir machen müssen, um die Laufgeschwindigkeit der Fliegen zu messen, und hatte gleichzeitig ein schönes Beispiel dafür gefunden, wie Video-Publikationen die Wissenschaft voran bringen können. Selbstverständlich habe ich das Video gleich den Studenten gezeigt.

Seymour Benzer

Seymour Benzer, der Herr der Fliegen.

Die begriffen sofort, um was es ging und dass man mit dieser Methode die generelle Laufgeschwindigkeit der verwendeten Fliegenstämme bestimmen kann. Dazu mussten die Studenten kein englischsprachiges Methoden-Paper mühsam studieren (Studenten lesen ungern, wie jeder Dozent weiß), sondern waren innerhalb von Minuten auf dem gleichen Wissensstand wie ich. Würden sich beim Bau der Kammer Fragen ergeben, oder bei der Durchführung der Experimente Probleme auftauchen, könnten wir entsprechende Kommentare am Video hinterlassen. Die Autoren würden sie beantworten – für uns und für alle weiteren Leser. Kommentare und Antworten helfen damit jedem, der diese Methode verwenden möchte, und die Autoren müssen nicht jedes Mal die gleichen Fragen beantworten. Ohne dieses Video hätten wir vermutlich wertvolle Zeit in die Entwicklung einer Methode investiert, von der gar nicht sicher gewesen wäre, dass sie auch wirklich funktioniert wie erhofft.

Mit der Kombination von klassischer Benzer-Apparatur und der Methode von Slawson et al. hätten wir dann zwei einfache Experimente, mit der Studenten bei minimaler Belastung des Instituts-Budgets selbstständig grundlegenden Fragen der Organisation von Verhalten nachgehen können.

In Fall unseres kleinen Projektes ‚screenen‘ sie eine Vielzahl an wildtypischen und genetisch veränderten Fliegenstämmen (Mutanten und transgene Tiere) auf Laufgeschwindigkeiten, Photo- und Geotaxis. Mit diesen Daten könne sie dann auf die Suche nach den biologischen Grundlagen der bemerkenswerten Flexibilität des Fliegenhirns gehen. Vielleicht finden Ben und Marc ja heraus, dass es so etwas wie „einfache Reiz-Reaktions-Schemata“ gar nicht gibt, wenn man nur genau genug hinsieht?

Mit derartigen Experimenten lernen die Studenten nicht nur die modernen Standard-Techniken der Drosophila-Neurogenetik, sondern auch fast schon wieder in Vergessenheit geratene Klassiker wie die Benzer-Apparatur. Am wertvollsten aber ist, dass sie nun nicht mehr ganz so hilflos vor dem Problem stehen: Wie und Wo suche und finde ich neue Methoden? Mit JoVE haben sie auch neuartige Kommunikationsmöglichkeiten kennengelernt.





Letzte Änderungen: 18.06.2009