Editorial

Pulsierende Mini-Herzen

Stefanie Haas


(21.03.2024) WIEN: Herzorganoide, sogenannte Kardioide, ermöglichen es, Herzfehler in vitro zu erforschen und Wirkstoffkandidaten zu prüfen. Wie sehr ähneln die Mini-Organe bereits echten menschlichen Herzen?

Das erste Organ, das während der Embryonalentwicklung des Menschen seine Funktion aufnimmt, ist das Herz. Bereits 22 bis 23 Tage nach der Befruchtung beginnt es zu schlagen. Am Tag 60 sind seine wichtigsten Funktionsstrukturen ausgebildet und müssen von da an nur noch wachsen und reifen.

Eine derart kurze Kardiogenese deutet auf einen einfachen Vorgang hin. Die Realität ist jedoch eine andere: Die Entstehung eines kontrahierenden Herzens ist hochkomplex und erfordert ein perfektes Timing. Fehler enden oft fatal und der Embryo stirbt. Schließlich sind das Herz und der Blutkreislauf essenziell für die Entwicklung des gesamten Organismus. Im Vergleich dazu verlaufen Anomalien bei anderen Organentwicklungen seltener tödlich.

Daten aus Tierstudien zufolge kommt es häufig zu letalen Herzdefekten. Im Menschen bleiben sie meist unbemerkt, da sie in einem frühen Stadium der Embryogenese auftreten. Sind Fehler hingegen weniger schwerwiegend, entwickelt sich der Embryo weiter und kommt mit einem Herzfehler als der häufigsten Art kongenitaler Missbildungen zur Welt. Welche Abweichungen in der Kardiogenese haben welche Konsequenzen? Diese Frage möchte Sasha Mendjan mit seiner Forschungsgruppe am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien beantworten. Dazu untersucht er, welche Schritte und Signale notwendig sind, damit ein gesundes Herz entsteht, und was diesen Prozess beeinträchtigt.

Querschnitt eines Mehrkammer-Kardioids, Foto: T. Illmer/IMBA
Im Querschnitt eines Mehrkammer-Kardioids mit Vorhoforganoid (cyan), linkem Kammerorganoid (grau) und rechtem Kammerorganoid (magenta) sind mehrere Hohlräume klar sichtbar. Foto: T. Illmer/IMBA

Tiermodelle sind hierfür nicht immer geeignet. Zwar sind die Entwicklung und der Aufbau des Herzens anderer Säugetiere dem menschlichen Herzen ähnlich. Dennoch unterscheiden sie sich zum Beispiel in ihrer Genexpression derart maßgeblich, dass die Auswirkungen vieler humaner Gendefekte auf die Organogenese im Tiermodell nicht untersucht werden können. Auch ist die Physiologie oft unterschiedlich: So pulsiert beispielsweise das Herz einer Maus mit 600 Schlägen pro Minute mehr als siebenmal so schnell wie das menschliche Herz. Forschungsergebnisse macht das nur begrenzt übertragbar.

Aus 2D mach 3D

Eine Alternative stellen In-vitro-Modelle mit Kardiomyozyten (CM) dar, die aus humanen Stammzellen generiert werden. Hier gibt es sowohl 2D- als auch 3D-Varianten: CM-Monolayer, CM-Mikrogewebe, das aus 2D-Zellkulturen aufgebaut wird, und synthetisches Herzgewebe, bei dem CMs auf ein Gerüstmaterial wie etwa Hydrogel aufgebracht werden. Diese Modelle sind relativ einfach, reproduzierbar und in größerem Maßstab herstellbar. Mit ihnen können sowohl Arrhythmien simuliert als auch die Kardiotoxizität von Substanzen und die Kommunikation zwischen Herzzellen untersucht werden. Gleichzeitig ist es jedoch ein Nachteil, dass sie meist nur ausdifferenzierte CMs enthalten. Wie sich Gendefekte oder Arzneimittel auf die Kardiogenese auswirken, lässt sich mit ihnen nur schwerlich untersuchen.

Sich selbst organisierende Herzorganoide sollen das ändern: Mendjan und seine Arbeitsgruppe erzeugten vor drei Jahren aus Kardiomyozyten erstmals sogenannte Kardioide, die spontan eine kammerartige Struktur ausbilden (Cell. doi.org/gmpqj5). Dafür stellten sie die embryonale Herzentwicklung in vitro nach und differenzierten humane pluripotente Stammzellen (hPSC) über mehrere Zwischenschritte zu CMs aus. Die Herausforderung dabei: Je nach Zellstatus müssen bestimmte Signalpfade aktiviert oder gehemmt sowie spezifische Wachstumsfaktoren innerhalb eines zeitkritischen Ablaufs stimuliert werden. So bestanden die Kardioide 2021 noch aus einem einzigen CM-Typ, den die Wiener Biotechnologen aus hPSCs erzeugten. Indem sie die Wnt-, Activin- und BMP-Signalkaskaden aktivierten, induzierten sie zuerst Mesodermzellen, aus denen prinzipiell mehrere Organe hervorgehen können. Über eine anschließende Hemmung von Wnt erhielten sie kardiale Mesodermzellen, die sie durch weitere Signale zu Kardiomyozyten der sogenannten ersten und zweiten Herzfelder differenzierten.

Während der normalen Embryonalentwicklung bringt das erste Herzfeld den linken Ventrikel (LV) und einen Teil der beiden Vorhöfe hervor. Aus dem anterioren zweiten Herzfeld entstehen die rechte Herzkammer (RV) sowie der rechtsventrikuläre Ausflusstrakt als Vorstufe der Lungenschlagader. Das posteriore zweite Herzfeld entwickelt sich ebenfalls zu Teilen der Herzvorhöfe.

Drei Zelltypen – ein Herzschlag

Bei der humanen Kardiogenese entsteht dabei zuerst die linke Herzkammer, anschließend der Vorhof, dann der rechte Ventrikel. „Diese Differenzierung passiert Schritt für Schritt“, erklärt Mendjan, „ und genau so haben wir sie nachgebildet“. Um die natürliche Kardiogenese zu rekapitulieren, konzentrierte sich die Forschungsgruppe anfangs darauf, Kardioide aus Kardiomyozyten der linken Herzkammer herzustellen. Doch schon das stellte einen Meilenstein dar, da die LV-Kardioide der Wiener Zellbiologen eigenständig zu kontrahieren begannen. „Dieser Automatismus, dass die Zellen die Charakteristika eines Schrittmachers haben und sich selbst stimulieren können, geht ihnen später verloren, und die Kontraktion wird dann von Schrittmacherzellen kontrolliert“, erläutert Mendjan.

Im nächsten Schritt gelang es seiner Arbeitsgruppe, Kardioide aus RV- oder Atrium-Zellen zu generieren. Auch die Kardioide aus Vorhofzellen begannen, eigenständig zu kontrahieren. Den RV-Kardioiden fehlte hingegen diese Fähigkeit. Welcher Mechanismus diesem Unterschied zugrunde liegt, ist noch nicht im Detail erforscht. Bekannt ist nur, dass HCN4-Ionenkanäle daran beteiligt sind, indem sie einen depolarisierenden Kationeneinstrom bewirken und so die rhythmische Aktivität des Herzens beeinflussen.

Sasha Mendjans Arbeitsgruppe, Foto: J. Hloch
Der Leitgedanke von Sasha Mendjan (obere Reihe, 2. v. l.) und seiner Arbeitsgruppe am Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) lautet: Nur wer die Entwicklung und Erkrankung des Herzens im Labor nachbilden kann, versteht sie auch. Foto: J. Hloch

Kürzlich erreichten die Österreicher den nächsten Meilenstein: Sie erzeugten Kardioide, die aus drei unterschiedlichen Kompartimenten bestehen: LV, RV und Vorhof (Cell. doi.org/gs6zpv). Dafür züchteten sie drei unterschiedliche Kardioide getrennt voneinander und gaben sie dann einfach zusammen. „Tatsächlich kommunizierten die Zellen unterschiedlicher Kardioide miteinander und bildeten einen gemeinsamen Hohlraum“, berichtet Mendjan noch immer voller Begeisterung. Wahrscheinlich sind dafür verschiedene Transmembranproteine wie Cadherine, Integrine, Gap Junctions und Connexine verantwortlich, über die miteinander kompatible Zellen interagieren. Doch damit nicht genug: Die Kardiomyozyten der Einzelkardioide verbinden sich nicht nur zu einer Einheit, sie kontrahieren auch synchron.

Reale Vorteile

Die Anwendungsmöglichkeiten dieser Miniherzen sind natürlich vielfältig. Mit einem dem echten menschlichen Organ derart nahen In-vitro-Modell können nicht nur die Physiologie des humanen Herzens studiert, sondern auch die Auswirkungen von Gendefekten und Herzfehlern sowie der Einfluss von Medikamenten auf die Kardiogenese untersucht werden. Herzkrankheiten sind die häufigste Todesursache weltweit, und der Bedarf an neuen Wirkstoffen ist entsprechend hoch. Eine Frage von Pharmaunternehmen lautet deshalb zum Beispiel: Löst ein Wirkstoffkandidat Herzrhythmusstörungen aus? Bisher prüfen Arzneimittelhersteller nur, ob eine neue Substanz die Funktion des hERG-Kanals beeinflusst, also eines spannungsaktivierten Kaliumkanals, der Kardiomyozyten während eines Aktionspotenzials repolarisiert. Dafür verwenden sie meist Kardiomyozyten von Kaninchen und Hunden, die dem menschlichen Herzen physiologisch am meisten ähneln. Da die Myozyten trotzdem nicht identisch sind, lösten Wirkstoffkandidaten in der Vergangenheit wiederholt Arrhythmien aus – was erst bei der klinischen Prüfung im Menschen erkannt wurde.

Kardioide bieten hier natürlich eine Option, die Anzahl an Tierversuchen zu verringern und wirksame Medikamente schneller zu identifizieren. So stellt das von Sasha Mendjan mitgegründete Wiener Start-up HeartBeat.bio Kardioide bereits in größerem Maßstab her und bietet sie Pharmafirmen für Arzneimitteltests an. Abgesehen von den ethischen Vorteilen punktet HeartBeat.bio dabei vor allem mit Automatisierung: Die Herstellung der Kardioide dauert nur sieben Tage; die weitere Reifung nimmt bis zu einem Monat in Anspruch. Ihr hERG-Test stellt direkt fest, ob eine Substanz Arrhythmien auslösen kann. Die toxikologischen Untersuchungen werden Tage bis Wochen nachbeobachtet. Aufgrund der Größenordnung der Testungen ist außerdem eine statistische Auswertung möglich. Noch nutzt HeartBeat.bio nur LV-Kardioide. Zukünftig wollen sie natürlich auch die komplexeren, dreikammerigen Herzorganoide anbieten.

Ohne Herz kein Wachstum

Mendjans Fokus liegt indes weiterhin auf der eigentlichen Kardiogenese: „Wir sind immer an der nächsten Entwicklungsstufe interessiert“, sagt er und untersucht momentan, wie sich die Herzkammern bilden, indem die Kardiomyozyten deren formgebendes Gerüst als extrazelluläre Matrix selbst produzieren. Außerdem möchte er Kardioide zukünftig mit anderen Organoiden kombinieren: „Das Modellsystem Organoid ist bis jetzt dadurch limitiert, dass es kein Herz gibt, das für die Zirkulation sorgt“, sagt er. Das betrifft auch die Kardioide selbst, da sie ohne eine ausreichende Nährstoffversorgung nur bis zu einer bestimmten Größe wachsen können. Zurzeit gibt es keine Modelle mit Vaskularisation, weshalb es eines der nächsten Ziele ist, Herzkranzgefäße in Kultur zu erzeugen und die Kardioide mit ihnen zu ergänzen. Noch realistischer wären natürlich auch Kardioide, die Schrittmacherzellen enthalten...