Editorial

Überdenken

Wie planbar soll Grundlagenwissenschaft sein?

Von Martin Grube, Graz


Essays
Illustr.: iStock / Akindo

(12.07.2017) Einfach mal „ins Blaue" entdecken – das ist heute, im Rahmen der Grundlagen-Forschungsfinanzierung nationaler Fördergeber, nicht mehr oder nur mehr schwer möglich. Dabei lassen sich doch gerade spektakuläre Resultate nicht planen oder vorhersagen.

„Wissenschaftler haben eine neue Möglichkeit entdeckt, um X zu erreichen....“ [frei einsetzbar X = ‚Heilung von Krebs’ | ‚Langes Leben’ | ‚Umkehr des Klimawandels’ | et cetera].

Es lässt sich kaum leugnen: Nachrichten aus den Naturwissenschaften haben meist einen spektakulären Anstrich. Er ist dem journalistischen Anspruch geschuldet und erweckt breiteres Interesse und Hoffnung. Dies gilt insbesondere für Themen mit Relevanz für Gesundheit und Umwelt. Allerdings bleiben dabei gewisse Randbedingungen mitunter auf der Strecke – zum Beispiel: Hat man die Ergebnisse unter speziellen Bedingungen gefunden? Was bedeutet die Nachricht im komplexen natürlichen Kontext? Wie gesichert sind die Daten überhaupt?

Wissenschaftsschlagzeilen lassen diese Fragen gerne offen, geht es doch erst mal um den Paradigmenwandel. Die weniger spektakulären Details – die in der Wissenschaft jedoch meist der Alltag sind! – können ja dann auch später geklärt werden, wenn die entsprechenden Untersuchungen finanziell unterstützt und mit breiten Daten unterfüttert sind.

Ganze Bücher der Wissenschaftsgeschichte berichten darüber, wie unterschiedlichste Ideen entstanden oder überraschende Entdeckungen in der Wissenschaft gemacht wurden. Die von Alexander Fleming im September 1928 im Londoner St. Mary's Hospital „vergessene“ Petrischale und die damit verbundene Entdeckung des Penicillins ist da ein klassisches Beispiel.

Einzig gemeinsam ist all diesen Entdeckungen, dass sie in dieser Dimension nie geplant waren, oder zumindest ein anderes Ziel verfolgt wurde. Ich finde sie faszinierend, diese Geschichten über herausragende Wissenschaftler von historischer Bedeutung, die Denkwelten vorheriger Generationen zum Einsturz brachten.

In der Euphorie für den Wandel gerät jedoch ein wenig aus dem Blick, dass nach solchen Entdeckungen das alte Wissen nicht verloren ist, sondern nun neu geordnet werden kann oder muss. Im Rahmen der Denkwelten vorheriger Generationen wurde das Rohmaterial für die Neuordnung erarbeitet. Dieses Rohmaterial besteht jedoch sehr oft nicht aus einem einzelnen, spektakulären „Aha-Moment“, einem gleichsam „goldenen Heureka-Geistesblitz“, sondern vielmehr aus „wissenschaftlichem Kleingeld“: Über lange Zeiträume hinweg wurden Mosaiksteinchen beschreibender Beobachtung von dauerhaftem Wert mühsam zusammengetragen.

Diese vielen kleinen Mosaiksteinchen erschließen erst den Kontext für neue Entdeckungen; ihr eigentlicher Wert wird oft erst in der Retrospektive erkennbar. Es ist das Ergebnis einer Haltung, die sich im Humboldt’schen Sinne der Qualität der Wissenschaft als Kulturgut verpflichtet fühlt, ohne ihr Ziele und Zwecke voran zu stellen: Grundlagenwissenschaft im besten Sinne.

Unbestritten sind Universitäten und außeruniversitäre Forschungszentren Horte, an denen Grundlagenforschung auf hohem Niveau durchgeführt werden kann. In einigen Wissenschaftszweigen tragen auch Museen zur Schaffung von Grundlagenwissen bei – zum Beispiel in Fragen der Klassifikation oder Dokumentation biologischer und geologischer Diversität in Zeit und Raum. In diesen akademischen Räumen herrscht möglicherweise auch ein verhältnismäßig freierer Zugang zum Unbekannten als in industrienahen Forschungsbetrieben; wobei Freiheit nichts mit Effizienz zu tun haben muss. Es wird gegenwärtig auch diskutiert, dass drittmittelfinanzierte Forschung zu sehr unter dem Einfluss von privaten Interessensgruppen stünde [1], und damit die Unabhängigkeit der Grundlagenwissenschaft gefährden könnte. Das möchte ich hier nicht bewerten, zumal ich zumindest mit meinen Forschungsthemen – der Diversitätsforschung von Pilzen – einen Einfluss dieser Art nicht wahrgenommen habe.

In der Diversitätsforschung haben wir derzeit das Problem, dass die seit einigen Jahren zur Verfügung stehenden Sequenzierungstechnologien eine bislang unentdeckte Biodiversität aufzeigen, während noch wenig über deren Morphologie, Physiologie und Ökologie bekannt ist. Kurz: Die Bedeutung dieser Vielfalt und einzelner Arten ist meist unbekannt und kann in den meisten Fällen nicht einmal ansatzweise beschrieben werden. Ganze neue phylogenetische Äste sind in den letzten Jahren an den Stammbaum der Pilze angefügt worden. Schätzungen gehen von bis zu 15 Millionen Pilzarten aus, doch gerade mal etwas mehr als 100.000 Arten sind bislang mit einem Namen versehen. Und ohne Namen kennt man üblicherweise auch keine sonstigen Eigenschaften der (noch) unbeschriebenen Art.

Eine enorme Diskrepanz, wenn man bedenkt, dass Pilze zu den bedeutendsten mikrobiellen Regulatoren in Ökosystemen zählen. Mutualistische Pilzsymbiosen (Mykorrhiza, Endophyten) fördern verpartnerte Wirtsorganismen, während Pathogene ihnen zusetzen, und auch die Bereitstellung von organischen Ressourcen wird maßgeblich von Pilzen bewerkstelligt. Auch die Diversität des funktionellen Zusammenwirkens von Pilzen mit Bakterien ist ein Thema, dessen Signifikanz immer deutlicher wird, auch in klassischen Pilz-Symbiosen wie Flechten [2]. Diese noch unzulänglich erforschte Vielfalt an pilzlichen Interaktionen stellt auch eine enorme Bioressource für künftige technologische Anwendungen dar.

Solange derartige Forschungen in ökonomisch relevanten Zielgebieten nicht forciert werden, bleibt der kollegiale Austausch unter Fachexperten zur Klärung der Diversitätsfragen. Diese Möglichkeiten des wissenschaftlichen Diskurses sind auch ein Grund, warum ich mit Freude an diesem Gebiet in Lehre und Forschung tätig bin. Ich bin meinem Arbeitgeber dankbar, dies auch so weiter verfolgen zu dürfen. Ein entsprechendes Netzwerk von Forschern mit verschiedenen Zugängen ist nicht zuletzt auch zur Etablierung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Fach notwendig [3].

Im Rahmen von Biodiversitätsinitiativen wurden im deutschsprachigen Raum mittlerweile mehrere neue Töpfe mit Forschungsgeldern gefüllt [4]. Man hat gerade in Zeiten des rasanten klimatischen Wandels erkannt, dass es wichtig ist, die biologische Komplexität zu verstehen, deren ökosystemische Integrität auch unsere Zukunft sichert. Dennoch bleibt am Ende zur umfassenden Erforschung pilzlicher Diversität nur etwas Kleingeld über. Ist dies der Fall, weil Ergebnisse daraus in ihrer Bedeutung nicht sofort erkennbar sind? Mit der Dimension des Unbekannten in einem Forschungsantrag zu argumentieren ist natürlich riskant, aber immerhin sind den Entdeckungen aus der Pilzdiversitätsforschung auch Revolutionen in der Medizin gefolgt.

Nur ein Beispiel: Ein Isolat des 1953 entdeckten Bodenpilzes Tolypacladium inflatum lieferte Ciclosporin, das zwar erst Jahrzehnte später Anwendung als Immunosuppressivum in der Medizin fand, nun aber dort nicht mehr wegzudenken ist. Obwohl die Zeiträume jeden Horizont einer Forschungsevaluierung überschreiten, ist mit Sicherheit ein spektakuläres Resultat, aber auch eines, das sich nicht planen ließ. Man hatte da zuerst einmal einfach ins Blaue entdeckt und gescreent. Das ist aber heute im Rahmen der Grundlagen-Forschungsfinanzierung nationaler Fördergeber nicht (mehr) möglich.

Forschungsfinanzierung baut zusehends auf spektakuläre Themen, erwartete Auswirkungen und Planbarkeit. Nicht immer kann explorative Wissenschaft das aber so einfach liefern. Entdeckungen und Ideen können schließlich nicht in einem Antrag vorausgesagt werden. Es wäre ja sonst auch nichts Neues. Kreatives Potential – sofern es nicht durch zunehmende Bürokratisierung des akademischen Alltags abgesaugt wird – ist daher gefordert, um dennoch zu Förderungen in der explorativen Biodiversitätsforschung der Pilze zu kommen. Vielleich auch mit der längerfristigen Perspektive auf die eingangs erwähnte Schlagzeile.



Zum Autor

Martin Grube leitet die Arbeitsgruppe Mykologie und Lichenologie am Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Graz, wo er in den letzten Jahren die mikrobielle Komplexität von Flechtensymbiosen erforschte, insbesondere in Bezug auf funktionelle Diversität ihrer spezifischen Bakterien-Gemeinschaften.



Referenzen

[1] Kreis, C. (2015) Die gekaufte Forschung, Wissenschaft im Dienst der Konzerne. Europa Verlag Berlin.
[2] Grube, M. et al. (2009) Species-specific structural and functional diversity of bacterial communities in lichen symbioses. ISME J 3: 1105-15.
[3] Grube, M. et al. (2017) The next generation fungal diversity researcher. Fungal Biol Rev. In press.
[4] https://www.bolgermany.de/, http://www.abol.ac.at/, http://www.swissbol.ch/


Letzte Änderungen: 12.07.2017