Editorial

"Mehr Licht"

Offenheit muss sich lohnen

Von Benedikt Fecher, Berlin


(12.07.2016) Nach dem Willen des EU-Rats „Wettbewerbsfähigkeit“, sollen bis 2020 Forschungsdaten möglichst nachnutzbar im Netz veröffentlicht werden. Eine „Kultur der Datenoffenheit“ wird jedoch nur entstehen, wenn die entsprechenden Systeme direkt auf die Reputation der Forscher abzielen.

Essays
Illustration: Fotolia / freshideas

An die Offenlegung von Forschungsprimärdaten werden hohe Erwartungen geknüpft. Vor allem soll Forschung dadurch effizienter werden. Schließlich kann man mit offengelegten, „alten“ Daten ohne eigenen Erhebungsaufwand neuen Fragestellungen nachgehen. Zudem wird im Falle einer frühzeitigen Veröffentlichung von Daten (oder durch die Pre-Registrierung von Erhebungen, wie in der Psychologie angedacht) die Gefahr von Mehrfacherhebungen reduziert (Buck, 2015).

Darüber hinaus sollen durch den offenen Zugang zu Publikationsdaten Ergebnisse überprüfbarer werden, indem etwa Re-Analysen ermöglicht werden. Schon jetzt ist in der Publikationsflut eine eingehende Qualitätssicherung der Ergebnisse allein durch Peer-Review unmöglich (Ioannidis, 2005). Die dadurch sicherlich mitverursachte „Replikationskrise“ war dem Economist, der sich sonst selten wissenschaftspolitischen Themen annimmt, immerhin eine Titelseite wert. Datenbasierte Replikationsstudien, etwa in der Lehre, könnten da vertrauensstiftend wirken.

Neben diesen, vor allem wissenschaftsimmanenten Vorteilen sind Daten aus dem Forschungsbetrieb aber natürlich auch in anderen Kontexten nützlich. Die Messdaten des US National Weather Service (NWS) werden auch von privaten Wetterunternehmen genutzt, was einem Wirtschaftswert – gemessen am Umsatz – von immerhin 1,4 Milliarden Euro entsprechen soll. Die NASA Landsat-Bilddaten werden bei Google Earth genutzt (OECD, 2015). Bürgerwissenschaftsprojekte, wie GalaxyZoo, bei dem Nutzer Satellitenbilder des Sloan Digital Sky Survey annotieren, zeigen zudem, dass wissenschaftliche Daten auch Potential für den Wissenschaftstransfer haben (Franzoni and Sauermann, 2014).

In Anbetracht der großen Hoffnungen, die in die Nachnutzung von Forschungsdaten gesetzt werden, ist es wenig verwunderlich, dass der offene Zugang zu Forschungsdaten ganz oben auf der forschungspolitischen Agenda steht. Neelie Kroes, die damalige EU-Kommissarin für die digitale Agenda, erkennt darin einen „Boost“ für die europäische Innovationskraft (Kroes, 2012). Mit der European Open Science Cloud werden bereits entsprechende Weichen gestellt. Für die Wissenschaftspolitik ist der offene Zugang zu Forschungsdaten ein effizienter Einsatz von Ressourcen und eine Investition in die gute wissenschaftliche Praxis. Sie übersetzt Robert K. Mertons Ideale der organisierten Skepsis und der kommunistischen Behandlung wissenschaftlicher Produkte quasi ins digitale Zeitalter.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen allerdings Welten. Vorzeigefälle für die Nachnutzung von Forschungsdaten stammen fast immer aus der Großgeräteforschung (beispielsweise vom CERN oder dem Sloan Digital Sky Survey (SDSS)), institutionellen Services (wie beim Sozioökonomischen Panel des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)) oder massiven Verbundanstrengungen (etwa dem Human Genome Project). In der “Small Science”, also unter Einzelforschern und kleinen Forscherteams, werden Daten dagegen nur sehr verhalten geteilt. Wenn überhaupt stellen Forscher ihre Daten denjenigen Kollegen zur Verfügung, die sie kennen. In einer Befragung von 1.560 Wissenschaftlern aller Disziplinen, die Kollegen und ich im letzten Jahr durchgeführt hatten, stimmten 76 Prozent der Befragten zu, dass Forscher ihre Daten veröffentlichen sollten. 88 Prozent der Forscher nutzten regelmäßig Daten, die sie nicht selbst erhoben haben. Aber: Nur 13 Prozent der Befragten haben jemals ihre Daten offengelegt (Fecher et al., 2015).

Editorial

Editorial

Darin offenbart sich ein soziales Dilemma. Jeder Forscher weiß um das Potential von Daten für den wissenschaftlichen Fortschritt, aber nur wenige stellen sie zur Nachnutzung bereit. Mit Forschungsdaten verhält es sich in etwa wie mit dem elektronischen Auto, von dem jeder weiß, dass es gut für die Umwelt ist – man sieht aber lieber den Nachbarn mit einem fahren.

Es ist allerdings nicht unbedingt den Forschern anzukreiden, dass sie ihre Daten nicht offen, also online frei zugänglich bereitstellen. Es gibt vielmehr viele Gründe. Teils sprechen Datensicherheits- und Datenqualitätserwägungen dagegen. Hinzu kommen mangelnde Kenntnisse im Datenmanagement (selbst archivierte Daten sind ohne entsprechende Dokumentation unbrauchbar).

Das Hauptproblem aber liegt im System: Im Gegensatz zu Artikel-Publikationen, die bei Beförderungen, Berufungen und Drittmittelentscheidungen entscheidend ins Gewicht fallen, haben Daten per se quasi keinen Wert. Entsprechend identifizierten in unserer Befragung Forscher die Gefahr, dass andere Forscher mit deren Daten Artikel publizieren, als den Hauptgrund, ihre Daten nicht zu teilen. Als in einem vieldiskutierten Kommentar im New England Journal of Medicine die Autoren kürzlich die Nachnutzung von Daten sogar als ein „parasitäres Verhalten“ bezeichneten, kam dieses Sentiment, dem viele Forscher offenbar schweigend zustimmen würden, zum Ausdruck. Für die Nachnutzung von Daten solle, so die Autoren, zumindest eine Koautorenschaft für den oder die Produzenten der entsprechenden Daten herausspringen (Longo and Drazen, 2016).

Abgesehen davon, dass eine Koautorenschaft das Potenzial von Data Sharing beschneiden würde und im Falle von Meta-Analysen und Replikationsstudien schlichtweg unsinnig wären, haben die Autoren in einer entscheidenden Sache Recht – wenn auch auf indirekte Weise: Für (gute) Forschungsdaten fehlt eine angemessene Anerkennung.

Es ist ja kein Geheimnis, dass es vor allem Reputation ist, die Wissenschaftler antreibt. Schon Niklas Luhman bezeichnete Reputation als die einzige wissenschaftseigene Währung (Luhmann, 2009). Der französische Soziologe Pierre Bourdieu betrachtet den Homo Academicus als einen Menschen, der permanent nach sozialer Anerkennung strebt (Bourdieu and Schwibs, 2010). In der Economics of Science sind es Artikel-Publikationen und -Zitationen, die das Verhalten von Forschern erklären. Die Wissenschaft ist folglich eine Reputationsökonomie – ein System, in dem Wissen und Information nur gegen (zählbare) Anerkennung geteilt werden.

Die Ergebnisse unserer Befragung belegen das gewissermaßen: Die Hauptmotivation für die Forscher, ihre Daten offenzulegen, ist die Daten-Zitation, also eine etablierte Form der Anerkennung. Monetäre Anreize werden dagegen strikt abgelehnt. Die Befürchtung, dass andere Forscher mit den „eigenen“ Daten publizieren, lässt sich ebenso mit einer Reputationskultur erklären, die Daten quasi keinen eigenen Wert beimisst. Sie sind ein Vorprodukt, das erst durch die narrative Veredelung einen Wert erfährt.

Der verhaltene Umgang mit Forschungsdaten hat auch – ja sogar insbesondere – mit einem tradierten Reputationsdenken zu tun, in dem Forschungsartikel, die zum größten Teil ohnehin nicht gelesen werden, eine unverhältnismäßig große Rolle spielen. Damit den Forderungen nach mehr Offenheit im Umgang mit Forschungsdaten auch in der Praxis Folge geleistet wird, muss Forschern ersichtlich werden, dass ihre Daten wertvoll sind – und dass dieser Wert auch geschätzt wird. Es müssen ein Markt und eine Kultur des Forschungsdatenaustausches entstehen, beispielsweise durch die Förderung von Sekundärdatenforschung (wie etwa großangelegte Replikationsstudien) und Datenproduktion, durch die Berücksichtigung von Daten-Publikationen bei Einstellungen und Beförderungen, durch Datenmanagementpläne bei Drittmittelanträgen, durch die Verbesserung der Auffindbarkeit von Daten oder auch durch „Best-Data-Awards“.

In anderen Worten: Daten-Offenheit muss incentiviert werden – sie muss sich für die Reputation der Forscher lohnen.

Benedikt Fecher arbeitet als Doktorand in der Abteilung „Forschungsinfrastruktur“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie im Projekt „Open Science“ am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft.



Referenzen

  • Bourdieu, P., and Schwibs, B. (2010). Homo academicus (Frankfurt am Main: Suhrkamp).
  • Buck, S. (2015). Solving reproducibility. Science 348, 1403–1403.
  • Enserink, M. (2016). In dramatic statement, European leaders call for “immediate” open access to all scientific papers by 2020. ScienceNews, May 27th 2016.
  • Fecher, B., Friesike, S., Hebing, M., Linek, S., and Sauermann, A. (2015). A Reputation Economy: Results from an Empirical Survey on Academic Data Sharing. DIW Berlin Discussion Paper 1454.
  • Franzoni, C., and Sauermann, H. (2014). Crowd science: The organization of scientific research in open collaborative projects. Research Policy 43, 1–20.
  • Ioannidis, J.P.A. (2005). Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Medicine 2, e124.
  • Jones, B. (2015). Towards the European Open Science Cloud. https://zenodo.org/record/16001
  • Kroes, N. (2012). Opening Science Through e‑Infrastructures. SPEECH/12/258
  • Longo, D.L., and Drazen, J.M. (2016). Data Sharing. New England Journal of Medicine 374, 276–277.
  • Luhmann, N. (2009). Die Wissenschaft der Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp). OECD (2015). Making Open Science a Reality.




Letzte Änderungen: 12.07.2016