Editorial

20 Jahre Laborjournal

Aufbruch in die molekulare Systembiologie

von Patrick Cramer, Göttingen


(11.07.2014) Was bringt einen erfolgreichen Strukturbiologen dazu, sich in das Minenfeld der funktionalen Genomik zu begeben? Neugier!

“Lass die Spekulationen und geh zurück ins Labor!” So reagierte ein britischer auf einen amerikanischen Kollegen, als dieser es wagte, die Zukunft seines Fachs vorauszusagen. Bevor ich daher nach der Zukunft meines Fachs, der Molekularbiologie, frage, werfe ich zunächst einen Blick zurück und berichte ganz konkret, was sich „neulich an der Bench“ in unserer Arbeitsgruppe ereignete.

Wie werden Gene angeschaltet? Um dieser Frage nachzugehen, studieren wir die Transkription, den ersten Schritt im zentralen Dogma der Molekularbiologie. Mit Hilfe strukturbiologischer Methoden konnten wir molekulare Details der Transkription in einem Film sichtbar machen (Cheung und Cramer, Cell 149, 1431-37). Der Film offenbarte aber auch Lücken, die die Strukturbiologie nicht zu schließen vermochte. Faktoren, Proteinmodifikationen und Funktionen blieben unbekannt.

Um die fehlenden zellulären Mechanismen zu finden, stiegen wir vor einigen Jahren in die funktionale Genomik ein. Da die Transkription vom genomischen Kontext abhängt, mussten wir die Genaktivität global erfassen, nicht nur exemplarisch an einzelnen Genen. Einige Strukturbiologen winkten damals ab. Die Daten aus der Genomik seien doch total verrauscht. Ich wolle das doch nicht ernsthaft versuchen. Als Kristallograph sei ich doch harte Daten gewohnt. Das verunsicherte mich.

Trotzdem: meine Entscheidung stand fest. Ich wollte mich in die funktionale Genomik vorwagen. Wichtig dabei war Frank Holstege aus Utrecht. Er zeigte auf einer Konferenz, dass sich Genexpressionsmuster ähnlich ändern, wenn verschiedene Untereinheiten eines funktionalen Proteinkomplexes aus der Zelle entfernt werden. Dieses Konzept festigten wir in einer Kollaboration (Lariviere et al., Genes & Development 22, 872-77). Somit war klar, dass genomweite Daten sehr wohl molekular erklärt werden können. Nun galt es, nicht nur neue Methoden zu lernen, sondern auch eine andere Kultur zu verstehen. Ein Genomiker fragte mich damals, was man je Neues von der Strukturbiologie gelernt habe. Die habe doch immer nur erklärt, was man ohnehin schon wußte!

Aus Neugier ging ich auf meine erste Systembiologie-Konferenz. Ich kam mir vor, als wäre es meine allererste Konferenz. Abgesehen davon, dass ich niemanden kannte, fehlte mir auch einiges an Grundwissen. Kein Gedanke, hier vorzutragen. Ein Poster aufzuhängen traute ich mich auch nicht. Was waren das für Leute, die sich anschickten, tausende von Genen gleichzeitig zu studieren? Ihr Mut faszinierte mich. Und er spornte mich an.

In den nächsten Jahren führte unsere Arbeitsgruppe mehrere Studien durch, in denen wir funktionale Genomik mit Strukturbiologie verknüpften. Dazu studierten wir die RNA-Polymerase II, das Schlüsselenzym der Transkription, das alle Protein-kodierenden mRNAs herstellt. Pol II besitzt eine flexible C-terminale Domäne, die phosphoryliert werden kann. Wir wussten, dass der Aminosäurerest Serin-2 phosphoryliert war, wenn Pol II Gene transkribierte, und dass dies zur Bindung von Elongationsfaktoren führte. Allerdings interagierten Terminationsfaktoren ebenso. Wie konnte das sein? Wir fanden heraus, dass der Austausch von Elongations- gegen Terminationsfaktoren durch eine benachbarte Phosphorylierung am Tyrosin-1 gesteuert wird (Mayer et al., Science 336, 1723-25). Das erklärte, warum die Transkription nicht vorzeitig stoppt und wie sie in die Terminationsphase übergeht.

Wie kam es zu dieser Entdeckung? Um Polymerase-bindende Faktoren über das Genom zu kartieren, arbeiteten Andreas Mayer und Michael Lidschreiber aus unserer Gruppe eng mit dem Bioinformatiker Matthias Siebert aus dem Team von Johannes Söding zusammen. Mit Hilfe der Chromatin-Immunopräzipitation (ChIP) lokalisierten sie Elongationsfaktoren innerhalb der Gene und Terminationsfaktoren an den Enden der Gene. Die Faktoren „wussten“ also, wo sie im Genom zu binden hatten – aber wir wussten nicht, woher sie das wussten.

So publizierten wir mutig, dass irgendetwas die Phosphorylierung am Serin-2 der Pol II maskierte, um zu verhindern, dass Terminationsfaktoren zu früh binden und die Transkription beenden (Mayer et al., Nature Structural & Molecular Biology 17, 1272-78). Aber offensichtlich fehlte etwas in unserem Verständnis der molekularen Mechanismen. Das bescherte mir schlaflose Nächte, die ich mit der Entwicklung abstruser Hypothesen zum Übergang von der Elongation zur Termination der Transkription verbrachte.

Die Lösung ließ sich – wie so oft – nicht erzwingen. Sie kam ein Jahr später völlig unerwartet. Mein Kollege Dirk Eick hatte mit Elisabeth Kremmer einen spezifischen Antikörper hergestellt, der, dies demonstrierte Martin Heidemann, Polymerase-Peptide mit Phosphorylierung an Tyrosin-1 erkannte. Sogleich testeten wir, ob diese Phosphorylierung überhaupt in der Zelle vorkam, und konnten die neue Modifikation tatsächlich nachweisen. Jetzt hätten wir publizieren können. Das Paper wäre aber deskriptiv geblieben.

Da kam uns die gute alte Strukturbiologie zu Hilfe. Toni Meinhart hatte 2004 die Struktur eines Terminationsfaktors im Komplex mit einem Polymerase-Peptid bestimmt (Meinhart et al., Nature 430, 223-26). In der Struktur interagierte der Faktor mit dem Tyrosinrest der Pol II durch dessen Hydroxylgruppe. Somit sagte die Struktur – zehn Jahre nach ihrer Aufklärung! – voraus, dass eine Phosphorylierung am Tyrosin-1 die Bindung des Terminationsfaktors inhibieren sollte.

Diese neue Hypothese war gut, weil sie sich testen ließ. Der ersehnte Nachweis gelang in vitro schnell. Allerdings ließ sich nicht zeigen, was bei der Mutation des Tyrosins in vivo geschieht, denn dies führte zu Lethalität. Wir stellten aber fest, dass die Besetzungen des Genoms mit Terminationsfaktor und Tyrosin-phosphorylierter Polymerase antikorreliert waren. Das überzeugte die Gutachter unseres Manuskripts davon, dass die Tyrosin-Phosphorylierung die Bindung von Terminationsfaktoren an die Polymerase verhindert (Mayer et al., Science 336, 1723-25).

Das Ziel, die Funktion der Tyrosin-Phosphorylierung in vivo zu zeigen, konnte nur über einen Umweg erreicht werden. Wir mussten einen Faktor finden, der die Phosphorylierung beeinflusst, und diesen dann inaktivieren. Unsere Hypothese besagte, dass die Phosphorylierung am Ende des Gens entfernt wird, um Terminationsfaktoren erst dort zu rekrutieren. Daher suchten wir nach einer Phosphatase. In der Tat befanden sich zwei Phosphatasen in einem Proteinkomplex, der am Gen-Ende bindet. Leider hatten wir diesen Komplex aber nicht zur Verfügung.

Der Enzymkomplex fiel auf wundersame Weise in unsere Hände. Als ich im Sommer 2012 in England auf Vortragsreise war, führte mich eine junge Gruppenleiterin, Lori Passmore, durch das beeindruckende neue Gebäude des Laboratoriums für Molekularbiologie (LMB) in Cambridge. Lori erwähnte, dass sie den Proteinkomplex gereinigt, dies aber noch nicht publiziert hätten. Das war Serendipity, jene glückliche Fügung, die sich für denjenigen ergibt, der auf sie hofft.

Loris Mitarbeiter Ashley Ester kam aus Cambridge nach München und machte sich mit Amelie Schreieck aus unserer Gruppe ans Werk. Die beiden demonstrierten, dass eine der Phosphatasen das Tyrosin der Polymerase in vitro dephosphorylierte. Entfernte man diese Phosphatase aus dem Zellkern, versagte die Termination in vivo. Das stärkte unsere Hypothese sehr! Ein aufmerksamer Gutachter der Arbeit schlug vor, nachzusehen, ob der Terminationsfaktor tatsächlich nicht mehr ans Gen-Ende rekrutiert würde, was sich durch ChIP bestätigen ließ (Schreieck et al., Nature Structural & Molecular Biology 21, 175-79).

Dieses Beispiel zeigt, wie ein molekularbiologischer Mechanismus durch die Kombination von Strukturbiologie mit funktionaler Genomik aufgeklärt werden konnte. Das Schöne dabei war, dass wir uns nicht entscheiden mussten zwischen hypothesengetriebener Forschung und Discovery Research. Vielmehr ergänzten sich die beiden Forschungsansätze gegenseitig und es entstand Synergie.

Man könnte einwerfen, dass der interdisziplinäre Ansatz doch nichts Neues sei. Biochemie und Genetik würden doch seit jeher kombiniert. Und für die junge Generation sei dies ohnehin selbstverständlich. Also doch zurück an die Bench, ganz ohne weitere Einsichten? Nein. Ich glaube, dass eine neue Molekularbiologie entsteht, die molekulare und genomweite Ansätze verbindet. Wir können sie wie eine quantitative Biochemie in der lebenden Zelle betrachten. Sie kann unser Denken und unsere Strategie im Labor verändern.

Zur Verdeutlichung ein weiteres Beispiel: Um die globale Funktion eines sehr speziellen Terminationsfaktors mit dem schönen Namen Nrd1 (sprich: nerd one) aufzuklären, benötigten wir ein größeres Repertoire der funktionalen Genomik (Schulz et al., Cell 155, 1075-87). Zunächst entfernte Daniel Schulz das essentielle Protein aus dem Zellkern (übrigens mit Hilfe der Anchor-away-Methode, die aus dem Laemmli-Labor kommt. Ja, das ist derselbe Uli Laemmli, der vor langer Zeit das SDS-PAGE erfand!)

Im nächsten Schritt beobachteten wir die globale Veränderung der Transkriptionsaktivität mit der 4tU-Seq-Methode. Dabei wird RNA während ihrer Synthese in der Zelle markiert, aufgereinigt und sequenziert. Wurde Nrd1 aus dem Zellkern entfernt, führte dies zu einer Verlängerung nicht-kodierender RNAs, im Schnitt um das Vierfache. Um solche Informationen aus den Daten zu extrahieren, schrieb Björn Schwalb dutzende Seiten Software. Eine Kartierung der Polymerase über das Genom mit Hilfe von ChIP-Seq bestätigte, dass die Transkription über die üblichen Terminationsstellen hinauslief. Also stoppte Nrd1 die Transkription nicht-kodierender-RNAs genomweit.

Um zu verstehen, wie Nrd1 nicht-kodierende-RNAs in der Zelle aufspürte, nutzten wir PAR-CLIP. Diese Methode wurde vor wenigen Jahren an der Rockefeller University in New York entwickelt. Sie ermöglicht es, RNA-bindende Faktoren über das Transkriptom zu kartieren. Als ich im Sommer 2010 in New York war, bemühte ich mich, Carlo Baejen, der als Diplomand bei Tom Tuschl arbeitete, für eine Promotion zu gewinnen. Carlo schlug ein und etablierte PAR-CLIP in München.

Die neue Methode bescherte uns hunderttausende Nrd1-Bindungsstellen im Transkriptom und ermöglichte die Beobachtung, wie die allermeisten Promotoren in beide Richtungen feuerten. In die eine Richtung wurde mRNA produziert, in die andere oft nur funktionslose RNA, die in Sekunden abgebaut wurde. Diese kurzlebige RNA war zuvor nur zu beobachten, wenn sie künstlich stabilisiert wurde, etwa durch Unterbinden des RNA-Abbaus. Mit Hilfe von PAR-CLIP detektierten wir diese RNA erstmals in gesunden Zellen. Dazu fingen wir die RNAs vor ihrem Abbau ein, indem wir sie mittels UV-Licht an Nrd1 knüpften.

Bis hierher war diese Studie ganz ohne Strukturbiologie ausgekommen. Vermutlich blieb sie deswegen deskriptiv. Strukturbiologische Kollegen hatten aber bereits gezeigt, dass Nrd1 an RNA-Motive andockte, die vier Nukleotide lang waren. Deshalb durchsuchte der Bioinformatiker Philipp Torkler in Johannes’ Gruppe die PAR-CLIP Daten auf von Nrd1 gebundene Tetramer-Motive. Die Verteilung dieser Motive über das Genom war erstaunlich, denn sie kamen in mRNAs selten vor. Das erklärte, warum Nrd1 in der Regel keine mRNAs angreift.

Unsere Studie hatte eine neue Qualität erlangt. Wir verstanden nun besser, wie Nrd1 funktionslose RNAs während ihrer Synthese in Zellen aufspürte, um deren Transkription abzubrechen. So überwachte Nrd1 das Transkriptom und sicherte die Direktionalität von Promotoren. Dieser zentrale Mechanismus wäre beinahe übersehen worden, weil sich die Forschung auf Ausnahmegene konzentrierte und häufig nur schwache Effekte an einzelnen Genen beobachtet wurden. Das zeigte die Vorteile des genomweiten Ansatzes: Er ermöglichte eine neutrale Betrachtung des zellulären Mechanismus und die Detektion schwacher Signale durch deren Mittelung über viele Gene.

Nach diesen Erfahrungen bin ich überzeugt, dass eine neue Molekularbiologie entsteht. Immer mehr molekulare Mechanismen lassen sich durch funktionale Genomik in den zellulären Kontext stellen. Viele Phänotypen bleiben aufgrund der Strukturbiologie nicht länger deskriptiv, sondern werden durch zugrunde liegende molekulare Mechanismen erklärt. Dass die Computational Biology für solche Arbeiten von zentraler Bedeutung ist, hat mir Iain Mattaj früh ans Herz gelegt.

Bahnbrechende Techniken ermöglichen weitere Entwicklungen. Lichtmikroskope durchstoßen die klassische Auflösungsgrenze und machen Details in der Zelle sichtbar. Elektronenmikroskope dringen ins Atomare vor, was für ein Jahrhundert der Kristallographie vorbehalten war. Die Sequenzierung von Transkriptomen wird immer präziser. Bessere Algorithmen stöbern eine Vielzahl neuer RNAs auf, ja sogar zyklische. Mit Hilfe des CRISPR/Cas9-Systems lassen sich menschliche Zellen bald so elegant genetisch manipulieren, wie wir dies von der Hefe kennen. Ribosomen werden über das Transkriptom kartiert. Das erhaltene Translatom wird mit dem Proteom verglichen − wenn das keine neue Molekularbiologie ermöglicht!

Um solch eine interdisziplinäre Molekularbiologie im Labor umzusetzen, werden starke Teams benötigt. Selbst ein Ausnahmetalent wird es nicht schaffen, sich alle nötige Expertise anzueignen. Das wäre auch gar nicht wünschenswert. Wir sollten Fachleute bleiben, denn nur als solche machen wir die nötigen Tiefenbohrungen. Allerdings müssen wir uns für Neues öffnen und zunehmend zusammenarbeiten. Daher sollte eine Genomikerin ruhig auch einmal eine 3D-Brille aufsetzen und ein Kristallograph durch ein Genom navigieren. Eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, baut Berührungsängste ab.

Was wir derzeit erleben, haben einige mit dem Begriff der „molekularen Systembiologie“ versucht zu fassen. Es gibt sogar schon ein erfolgreiches Journal, das sich Molecular Systems Biology nennt. Doch wann wird aus Molekularbiologie molekulare Systembiologie? Sollten wir uns überhaupt mit solchen Fragen beschäftigen? Ich denke schon, denn es geht um Begriffsbildung und somit um das begreifbar machen eines entstehenden Forschungsgebiets.

Ich möchte nur dann von molekularer Systembiologie sprechen, wenn eine Studie ein Modell mit Vorhersagekraft hervorbringt. Diesen Versuch haben wir in einem Projekt mit den Mathematikern Björn Schwalb und Achim Tresch unternommen. Die beiden stellten ein dynamisches Modell auf, das die Kinetik von Synthese und Abbau zellulärer RNAs simulierte (Miller et al., Molecular Systems Biology 7, 458). Kerstin Maier und Christian Miller nutzten dazu eine von Lars Dölken perfektionierte Methode der metabolischen RNA-Markierung. In Zusammenarbeit mit Mai Sun und Daniel Schulz entdeckten wir, dass Zellen RNA-Konzentrationen puffern können. Änderte sich die RNA-Synthese, so kompensierten Zellen dies durch Anpassen des RNA-Abbaus und umgekehrt (Sun et al., Genome Research 22, 1350-59).

Nachdem ich diese Entdeckung voller Enthusiasmus in einer Keynote Lecture verkündet hatte, erklärte mir ein älterer Kollege trocken: “Patrick, Sie haben die Homöostase wiederentdeckt.” Dennoch quälte mich die Frage, wie die Zelle „wusste“, dass im RNA-Metabolismus etwas schief lief. Achim sagte voraus, dass dafür ein RNA-Abbau-Faktor verantwortlich sein musste. Das ergab sich wohl aus seinen Formeln. Ich verstand es nicht, vertraute ihm aber. Daraufhin ermittelte Nicole Pirkl tausende RNA-Syntheseraten in Hefestämmen, in denen Abbaufaktoren fehlten. Ohne den Faktor Xrn1 war es schlecht um die RNA-Homöostase bestellt. Die Zellen kompensierten den Abbaudefekt kaum noch und platzten fast vor RNAs (Sun et al., Molecular Cell 52, 52-62).

Das war ein magischer Moment, denn der Kreis hatte sich geschlossen. Wir waren vom Experiment zum Modell, zur Vorhersage und zu deren Bestätigung in einem Folge-Experiment gelangt. Auch wenn noch viele Fragen offen waren, so hatten wir doch das schöne Gefühl, der Natur ein kleines Geheimnis abgerungen zu haben. Die Molekularbiologie war für diese Studie zur molekularen Systembiologie geworden.

Die Zeit schien nun reif, die neuen Methoden auf die fundamentale Lebensreaktion der Zellteilung anzuwenden. Philipp Eser, Carina Demel und Kerstin Maier verfolgten die Entwicklung von Synthese und Abbau aller mRNAs über drei Zellzyklen (Eser et al., Molecular Systems Biology 10, 717). Wir fanden, dass Zellen einige Zeit nach der periodischen Genaktivierung den Abbau der entstandenen RNAs forcierten. Erst so kommt es zu den scharfen Expressions-Spitzen für hunderte Gene, die meist schon lange bekannt und notwendig sind, um das Wachstum von Zellen und Organismen zu ermöglichen.

Genomweite Daten und systemische Ansätze fließen also zunehmend in die Molekularbiologie ein. Das bereitet manchen Unbehagen, denn die Möglichkeiten zur Fehlinterpretation sind mannigfaltig. Gerade deshalb ist es wichtig, sich genomweiten Daten mit einem molekular-mechanistischen Verständnis zu nähern. Sicher wird dieser Ansatz nur für einen Teil der Lebenswissenschaften anwendbar oder notwendig sein. Aber wir sollten ihm vertrauen und ausloten, was er alles ermöglicht. Wenn sich mehr Erfolge einstellen, wird ihn eine größere Community von Molekularbiologen anwenden.

Apropos Community: Ohne sie wäre diese Entwicklung in unserem Labor nicht möglich gewesen. Selbst ganz zu Beginn war der Austausch mit anderen Forschern essentiell. So entstand im Rahmen einer Poster-Session im Jahr 2003 auf einer Konferenz die Idee, die Struktur eines Terminationsfaktors zu bestimmen. Die erhaltene Struktur hielt – unerwarteter Weise – Jahre später den Schlüssel parat, um aufzuklären, wie die komplette mRNA in der Zelle hergestellt und die Bildung nicht-funktionaler RNAs unterdrückt wird.

Die Konferenz fand übrigens in Cold Spring Harbor statt, jener verschlafenen Gemeinde auf Long Island, wo noch immer Jim Watson auftaucht. Wie viele andere amerikanische Molekularbiologen forschte auch Watson einst in Cambridge, als die Strukturbiologie geboren wurde. Jahrzehnte später kam ich als Student nach Cambridge und montierte dort bei Alan Fersht meinen ersten Proteinkristall. Eines Tages im Jahr 1994 kam der hochbetagte Max Perutz ins Labor. Er wollte das Klonieren lernen. Seine unersättliche Neugier fasziniert mich bis heute.

Patrick Cramer war nach Forschungsaufenthalten in Cambridge, Grenoble und Stanford von 2004-2013 Leiter des Genzentrums der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2014 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, wo er die Abteilung für Molekularbiologie aufbaut.


Letzte Änderungen: 11.07.2014