Editorial

Buchbesprechung

Hubert Rehm




Werner Müller:
Gibt es einen 7. Sinn?

Taschenbuch: 312 Seiten
Verlag: Springer (22. März 2016)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3662488124
ISBN-13: 978-3662488126
Preis: 14,99 Euro (Softcover), eBook in Kürze verfügbar

Wider die esoterische Flut!

Auch wenn sie nichts bewirken: Die Welt braucht solche Bücher, meint unser Rezensent.

Der emeritierte Tierphysiologe Werner Müller, Autor von Gibt es einen 7. Sinn?, kam schon als Student in Berührung mit der Welt außersinnlicher Phänomene – oder, genauer gesagt, mit einem ihrer Künder, dem Parapsychologen Hans Bender (für Interessierte: Benders Wirken wird in dem Klassiker Der moderne Okkultismus von Prokop und Wimmer dargestellt). Müller besuchte in Freiburg Benders Vorlesungen; er hat sich aber nicht, wie andere, von Bender blenden lassen. Später ist Müller Professor in Heidelberg geworden und hat ein Lehrbuch verfasst (Tier- und Humanphysiologie. 5. Auflage 2015, Springer). Als Experte für Sinnesphysiologie ist Müller also berechtigt, sich zum siebten Sinn, dem Zentralbegriff der Esoterik, zu äußern.

Müller wendet sich an den Durchschnittsleser; man müsse keine biologische Vorbildung haben, um das Buch zu verstehen, versichert er. Vielleicht hat Müller Recht, aber konzentrieren muss sich der unbedarfte Leser schon. Wer vorher keine biologische Vorbildung hatte: hinterher hat er welche. Man weiß dann sogar, was das vomeronasale Organ ist und kann. Der eigentliche Gewinn aus dem Buch ist jedoch – wenn der Leser nicht schon auf Esoterik festgelegt ist – eine Immunität gegen die allgegenwärtigen geistigen Viren.

Editorial

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Müller gibt einen wissenschaftlich fundierten Einblick in (angeblich) übersinnliche Phänomene: Poltergeister, innere Stimmen, Wünschelruten, Telekinese, Telepathie, Homöopathie, Heilsteine, Magnete, Zukunftswissen, böser Blick und Gedankenübertragung. Er stellt klipp und klar fest: Es gibt keine experimentelle Bestätigung der Existenz solcher Phänomene. Zudem erläutert er in Kapitel 9 den Unsinn der zahllosen Nahrungsmittelstudien (Broccoli hält jung, Tomaten schützen vor Alzheimer etc.) und, durchaus selbstkritisch, den Druck auf die Forscher, ihre Ergebnisse den Erwartungen anzupassen.

In der Tat: Nicht nur Esoteriker neigen zum Betrug – die aber ganz besonders. Das haben Sie schon vorher gewusst? Ich auch.

Wie entsteht Aberglaube?

Die interessantesten Abschnitte in Gibt es einen 7. Sinn? sind denn auch jene, die untersuchen, wie nicht beweisbare Überzeugungen und Aberglaube entstehen und wie es kommt, dass ansonsten vernünftige Leute am dicksten Unsinn kleben bleiben. So erklärt Müller in Abb. 9.1 die scheinbare Wirksamkeit vieler Esoterika mit ihrem späten Einsatz und der natürlichen Heilung. Meist greift man erst zu Esoterika, wenn anderes versagt hat. Ihre Einnahme korreliert dann oft zufällig mit dem endlich einsetzenden natürlichen Heilungsprozeß. Dies beeindruckt den Patienten und er preist seinen Freunden und Kollegen die vermeintlich durchschlagende Wirkung.

Müllers Text ist lesbar, wirkt aber auf den ersten Blick trocken. Erst mit der Zeit fällt einem der unterschwellige, unaufdringliche Humor auf. So, wenn Müller die morphogenetischen Felder des Rupert Sheldrake als Mittel gegen Alzheimer ins Gespräch bringt oder die Spielkasinos von Las Vegas als gewinnverheißende Ziele der Gedankenkraft preist.

Aber ist es nicht zwecklos, solch ein Buch zu schreiben? Der Aufgeklärte braucht es nicht und die Gläubigen werden sich nicht belehren lassen. Ein Bekannter von mir etwa hört Stimmen (wo keine sind) und glaubt, dass ihm Außer- oder Überirdische Botschaften mitteilen. Als er das meiner Schwester erzählte, bat sie ihn, sich doch bei seinen außerirdischen Freunden nach den Lottozahlen der nächste Woche zu erkundigen. Sein Bruder wiederum riet ihm, sich ein Aufnahmegerät ins Ohr zu stecken und die Stimmen aufzunehmen. Beides scheiterte. Meine Schwester wartet bis heute auf ihren Lottogewinn, und auf den Tonbändern hört man nur Rauschen. Mein Bekannter jedoch glaubt immer noch, er habe Verbindungen ins Universum. Vielleicht auch deswegen, weil es dem alternden arbeitslosen Mann eine Bedeutung gibt. Müllers Buch würde er anlesen und in den Müll schmeißen.

Was kann ein Buch schon bewirken?

Und was kann ein Büchlein wie Gibt es einen 7. Sinn? schon gegen die Wucht vermeintlicher Autoritäten ausrichten? Noch ein Beispiel: Neulich habe ich eine Dame zum Arzt begleitet. Sie litt Schmerzen beim Gehen und wollte ein neues Hüftgelenk. Der Arzt empfahl statt einer Operation homöo­pathische Globuli. „Das ist Voodoo“, sagte ich. „Aber es hilft!“, konterte der Chirurg. Richtig wäre jetzt gewesen, den Mann zu fragen, wo das denn dokumentiert sei. Wie Müller kenne auch ich keinen belastbaren Nachweis der Wirksamkeit homöopathischer Mittel. Noch besser wäre es gewesen, aufzustehen, zu sagen „Das stimmt nicht! Behalten Sie Ihre Quacksalbereien!“ und zu gehen – was ich bei anderer Gelegenheit auch schon getan habe. Aber die Patientin sah ihren Arzt mit so gläubig großen Augen an, dass ich gar nichts sagte und dachte „Soll ich jetzt wirklich Krach schlagen? Dann wirft sie mir hinterher vor, ich hätte ihn verärgert.“ Und so hat wieder eine Quacksalberei den Umsatz des Quacksalbers gesteigert und die Dame musste sich dennoch operieren lassen.

Ist Müller also ein Sisyphus? Einer, der am Strand Löcher gräbt, die die nächste Welle wieder zuschwemmt? Nein! Man muss der esoterischen Flut mit zäher Arbeit entgegentreten. Sonst schwemmt sie uns weg.




Letzte Änderungen: 28.04.2016