Editorial

Buchbesprechung

Hubert Rehm




Werner Müller:
R-Evolution des biologischen Weltbildes bei Goethe, Kant und ihren Zeitgenossen

Taschenbuch: 188 Seiten
Verlag: Springer Spektrum; Auflage: 2015 (27. November 2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3662447932
ISBN-13: 978-3662447932
Preis: 19,99 Euro (Softcover), 6,99 Euro (eBook)

Wie entstand unser heutiges Weltbild?
Aus Irrtümern lernen

Johann Wolfgang von Goethe war nicht nur Literat, sondern auch fähiger Naturwissenschaftler. Doch warum haben sich bislang ausschließlich Geisteswissenschaftler mit dem Anatomen und Botaniker Goethe beschäftigt?

Werner Müller, einstiger Ordinarius für Zoolo­gie an der Universität Heidelberg, ist fasziniert von der Entwicklungsbiologie. Zu seiner aktiven Zeit versuchte er, ihre Rätsel mit Hilfe der Cnidarier zu lösen. Cnidarier? Das ist kein geheimnisvoller Ritterorden mit Müller als Großmeister; es sind auch keine symbiotisch arbeitenden Mikroorganismen, die intrazellulär als kommunikatives Bindeglied zwischen Macht und Lebewesen fungieren (das sind die Midi-Chlorianer).


Goethe in der Campagna (1786/87, von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein). Das hier besprochene Buch thematisiert erstmals aus biologischer Sicht den revolutionären, von Goethe und seinen Zeitgenossen eingeleiteten Wandel des Weltbildes, der in der Erkenntnis gipfelte, dass der Mensch das Produkt einer Millionen Jahre langen Evolutionsgeschichte ist.

Nein, Cnidarier sind Nesseltiere wie die Seeanemonen und der Süßwasserpolyp Hydra. Müller fragte sich, welche Signalsysteme bestimmen, dass an einem Ende der Körpersäule ein Kopf, am anderen ein Fuß entsteht. Über diese Signalsysteme konnte Müller vielköpfige Tiere erzeugen. Auch hat Müller nachgewiesen, dass die Metamorphose von sessilen marinen Organismen wie Korallen durch Bakterien ausgelöst wird. Er hat – an seinem Lieblings-Cnidarier – gezeigt, dass dessen Stammzellen totipotent sind und man differenzierte Ephithel­zellen wieder in Stammzellen zurückverwandeln kann. Zudem hat Müller Lehrbücher über Entwicklungsbiologie und Physiologie geschrieben.

Woher kommt die Evolution?

Jetzt legt er ein Büchlein zur Wissenschaftsgeschichte vor: R-Evolution des biologischen Weltbildes bei Goethe, Kant und ihren Zeitgenossen (172 Seiten). Müller bietet darin einen Überblick über die Ideengeschichte der Evolution und der Morphogenese von Aristoteles (384-322) bis zu Darwin (1809-1882). Müller will zeigen, woher die Anschauungen und Begriffe der Evolutionsbiologen kommen und wie sie sich im Laufe der Zeiten gewandelt haben. Die Ideen von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) zu Evolution und Morphologie stehen im Zentrum von Müllers Betrachtungen. Dies sei angebracht, so Müller, weil die Rolle Goethes bisher hauptsächlich von Geisteswissenschaftlern behandelt worden sei – und die zwar viele Worte, aber wenig Ahnung hätten (Müller drückt das vornehmer und zurückhaltender aus).

Nach Müller war Darwin kein einsamer Revolutionär, der die Prinzipien der Evolution aus dem Nichts in die Welt schleuderte, er hatte Vorläufer und Vordenker: das Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) und Herder. Bei Herder handelt es sich nicht um Bartholomä Herder, den Gründer des gleichnamigen bis heute in Freiburg ansässigen Verlags, sondern um den Theologen und Hofprediger Johann Gottfried Herder (1744-1803). Es ist ja eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte, dass die Evolutionstheorie maßgeblich von Theologen entwickelt wurde: Darwin hatte Theologie studiert, Kant hatte sich erst für Theologie eingeschrieben und Leibniz hatte bei einem Theologen studiert. Bei den Franzosen trugen Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788), Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829), Denis Diderot (1713-1784) und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844) zur Evolutions­theorie bei, und auch bei ihnen ist ein theo­logischer Einschlag erkennbar. Buffon beispielsweise war Jesuitenzögling, und er und St. Hilaire schlugen anfangs die geistliche Laufbahn ein.

Dominanz der Theologen

Für einen Kenner der Universitätsgeschichte kommt diese Dominanz der Theologen nicht überraschend: Die meisten der damaligen Studenten waren in Theologie eingeschrieben, und dies nicht, weil sie eifrig an die päpstlichen Dogmen glaubten, sondern weil das Theologiestudium erschwinglich war und eine sichere Karriere in einer quasistaatlichen Institution bot. Theologie war früher also das, was heute Sozialpädagogik, Sozio­logie und Politologie sind: Fächer die man studiert, weil sie bei geringem Aufwand eine sichere Versorgung durch den Staat versprechen oder zu versprechen scheinen. Freilich hat bisher noch kein Polito­loge einen nennenswerten Beitrag zur Evolutionsbiologie geleistet.

Leibniz, Kant, Herder und Co. dagegen haben schon vor Darwin überlegt, wie die Beständigkeit und der Wechsel der Lebewesen zustande kommen. Ja, bei der Lektüre von Müllers Buch gewinnt man den Eindruck, dass die Evolutionstheorie ab der Mitte des 17. Jahrhunderts quasi in der Luft gelegen hat. Darwins Revolution scheint eher der Höhepunkt einer Evolution gewesen zu sein. Nach Müller war es aber Darwin, der das entscheidende Faktenwissen anhäufte und es systematisch aufarbeitete. Zudem verzichtete Darwin als erster auf philosophisch-theologische Argumente, vielleicht weil er, im Gegensatz zu Herder, nicht auf eine kirchliche Stelle angewiesen war: Das Sein bestimmt das Bewusstsein oder wenigstens das, was man sich zu sagen traut.

Wie stand Goethe zu diesen Pionieren der Evolutionsbiologie? Der „Dichterfürst“ ging ja nicht nur mit Götz von Berlichingen und dem Faust in die Geschichte ein, sondern er betätigte sich auch als durchaus kundiger Mineraloge, Anatom und Physiker. Und als begeisterter Botaniker natürlich.

Goethes Werk...

Goethe ging es um die Urpflanze, er suchte nach einem gemeinsamen Grundbauplan, der der Vielfalt der Pflanzenformen zugrunde liegen müsse. Viele Goethekenner fragten sich, ob Goethe mit dieser Urpflanze eine phylogenetische Stammform gemeint hat oder eine bloße Idee. Die Literaturwissenschaftler glauben Letzteres und haben ihre Gründe dafür.

Wer jedoch Goethes Schriften zur Schädelkunde liest, gewinnt einen anderen Eindruck. Goethe sammelte leidenschaftlich Schädel. Am Schädel des Menschen entdeckten er und der befreundete Anatom Justus Christian Loder (1753-1832) den Zwischenkieferknochen wieder. Goethe schloss daraus, dass der Mensch, entgegen dem Dogma der zeitgenössischen Anatomie-Koryphäen, ein Säugetier sei.

Mit seiner Hypothese dagegen, der Schädel sei aus Wirbelknochen zusammengesetzt, hatte Goethe nur teilweise recht (dies gilt nur für den hinteren Teil des Schädels). Doch immerhin spricht sich Goethe klar für eine Wandelbarkeit der Arten aus, so in seinen Aussagen zum Skelett eines Urstiers. Goethe ist, nach Müller, also ein Wegbereiter der Evolutionstheorie. Kant kommt Goethe freilich zuvor: Kant vertrat die Ansicht, es habe wohl eine Evolution von einfachsten Lebewesen bis hin zum Menschen gegeben. Mehr noch nimmt Herder Darwin vorweg in seinem vierbändigen Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Herder und Goethe standen in regem Briefwechsel).

Verkannte Größe: Lamarck

Den Jean-Baptiste Lamarck hält Müller für eine verkannte Größe. Man müsse bei Lamarck nur den direkten Einfluss der Umwelt durch den indirekten Einfluss der Selektion ersetzen, und schon sei man bei Darwin angelangt. Lamarck habe erkannt, dass die Natur die Tierarten nach und nach und nicht in einem einmaligen Schöpfungsakt hervorgebracht habe. Von Lamarck stamme auch der erste Stammbaum der Tiere und er habe die Vögel richtig von den Reptilien hergeleitet. Des Weiteren habe Lamarck den Begriff der „Wirbellosen“ geprägt; ja, selbst der Begriff „Biologie“ stamme von ihm.

Dass Lamarck an die Vererbung erworbener Eigenschaften glaubte, nimmt ihm Müller nicht übel: Das sei die gängige Auffassung seiner Zeit gewesen. Auch Kant, Goethe, Alexander von Humboldt und selbst Darwin hätten daran geglaubt.

... und Steiners Beitrag

Für „Intelligent Design“ und „Anthroposophie“ hat Müller wenig übrig. Die Anthroposophie scheint er für noch abgedrehter zu halten als Intelligent Design, aber es ist ja schwer, Skurrilität quantitativ zu erfassen. Der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, hatte als erster die naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes publiziert, beanspruchte ihn als Vordenker und nannte sein Dornacher Mekka denn auch Goetheanum. In der Tat hat Steiner noch mehr Geschriebenes ausgeschieden als Goethe – aber in einem bodenlos schlechten Stil. Man muss deswegen Müller bewundern, der es über sich gebracht zu haben scheint, Steiners Ergüsse zu lesen – dem Rezensenten wurde schon nach einer halben Seite dieser Lektüre schlecht.

Was nutzt dem Leser Müllers Ideengeschichte, die großteils auch eine Geschichte der Irrtümer ist?

Zum einen ist es interessant, den Bedeutungswechsel der Begriffe über die Jahrhunderte zu verfolgen. So deckt sich der Begriff der Seele des Aristoteles weitgehend mit dem heutigen Begriff der genetischen Information (was nicht heißen soll, dass Aristoteles schon die Existenz einer DNA erahnt hätte). Zum anderen schützen uns die Irrtümer der alten Autoritäten vor den Irrtümern der heutigen. Müllers Buch ist lesenswert.




Letzte Änderungen: 05.05.2015