Schwarz-weiße Schöpfung - Opulenter Salgado-Bildband
Atemberaubende Naturfotos vom wohl wichtigsten sozialdokumentarischen Fotografen der Gegenwart.
„Tack!“ machte es, „Tack-tack-tack-tack!“ Ein Feuerwerk, habe er spontan vermutet, so wie in seiner Heimat Lateinamerika üblich, wenn ein Staatsoberhaupt zu Besuch kommt. Dann realisierte er, dass es in Wahrheit die Revolverschüsse eines Attentäters waren, die an diesem 30. März 1981 über den Vorplatz des Washingtoner Hilton-Hotels peitschten – und schaltete in den Reportagefotografen-Modus. Auf später veröffentlichten Videobildern ist er gelegentlich zu erkennen, fotografierend wie am Fließband.
Die 76 Einzelbilder, aufgenommen auf Kodachrome-Film mit einer Leica M5 und zwei Nikons in weniger als einer Minute, zeigen den Anschlag John Hinckleys auf US-Präsident Ronald Reagan. Sie sollten zum Wendepunkt für den damals 37-jährigen Sebastião Salgado werden: Die Fotos gingen um die Welt und verschafften dem bis dahin Unbekannten Weltruhm – und auch das nötige Startkapital für seine späteren Fotoreportagen, in denen er über Jahre hinweg das Leben der Menschen am unteren Ende der Gesellschaft dokumentierte.
Der inzwischen als „Chronist der Dritten Welt“ geltende, in Paris lebende Brasilianer „empfand von Kind an eine tiefe Verbundenheit mit der Natur“, hebt der Klappentext des mit 520 Seiten wuchtigen Werks an. Im Geleitwort salbadert die Generaldirektorin der UNESCO von Nachhaltigkeit und der „verwundbaren Schönheit unserer Welt“. Jeder müsse dabei mitwirken, „unseren Planeten zu erhalten und Lebensentwürfe zu finden, die uns in die Zukunft führen“.
„Tiefe Naturverbundenheit“
Tja, liebe Frau Bokova, lieber Herr Salgado, wollen Sie nicht gleich morgen damit anfangen, Ihre persönlichen Lebensentwürfe neu zu justieren? Etwa indem Sie die Zahl Ihrer Flugreisen deutlich zurückschrauben... immerhin ist das Flugzeug das mit Abstand umweltschädlichste Verkehrsmittel; es verursacht Lärm und Schadstoffe, verschwendet die Ressource Erdöl und belastet das Klima. Wenigstens wurde Salgados neuestes Prachtwerk Genesis im nahen Italien gedruckt – und nicht etwa im fernen China, um anschließend um die halbe Welt geschippert zu werden.
Besonders hochwertig verarbeitet ist der 3,4 Kilo schwere Bildband nicht: Das Rezensionsexemplar ist am oberen rechten Eck so unsauber geschnitten, dass beim Blättern stecknadelkopfgroße Papierbrösel abfallen. Die Reproduktionsqualität der Fotos hingegen geht in Ordnung, auch wenn viele von ihnen arg dunkel rüberkommen. Vielleicht ist dies ja von Salgado so gewollt? Der Rezensent jedenfalls würde bei so derart düsteren Abbildungen, wie sie in Genesis des Öfteren vorkommen, ganz dezent per Photoshop den Tonwert korrigieren. Aber er ist ja auch kein Weltklasse-Künstler.
Grundsätzlich sind die Fotos, die auf rund 30 Weltreisen in entlegene Gegenden zwischen 2003 und 2011 entstanden, natürlich erste Sahne – atemberaubend, beeindruckend, großartig, nachdenklich machend. Typisch Salgado eben. Sie zeigen Seeelefanten, Schlangenhalsvögel, Meerechsen, Wieselmakis, Flughunde, Berggorillas, Wale, und und und – von der Flora ganz zu schweigen. Breiten Raum nehmen auch indigene Völker ein, etwa die namibischen Himba-Nomaden, das Yali-Volk aus West-Papua und die indonesischen Mentawai-Ureinwohner (das sind die, die sich traditionell die Zähne spitz feilen).
Bis Anfang 2014 ist Salgados Fotoausstellung „Genesis“ noch im Musée de l‘Elysée in Lausanne zu bewundern. Wer sie verpasst, sollte sich das Buch zulegen.
Letzte Änderungen: 09.11.2013