Editorial

Buchbesprechung

Patricia Gwozdz




Hans-Ulrich Wittchen & Jürgen Hoyer (Hrsg.): Klinische Psychologie und Psychotherapie.
Gebundene Ausgabe: 1168 Seiten
Verlag: Springer Berlin Heidelberg; Auflage: 2., vollst. überarb. und aktual. Aufl. (28. Juli 2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3642130178
ISBN-13: 978-3642130175
Preis: 49,95 EUR

Komplexität der Psyche

Who dunnit?

Zwangsneurose oder Phobie, das ist hier die Frage. Illustration: Rafaél Florés

Welche Ursachen haben psychische Störungen, wie äußern sie sich und wie kann man sie behandeln? Das nachfolgend besprochene Lehrbuch beantwortet diese Fragen.

Was ist der Unterschied zwischen Schizophrenie und einer multiplen Persönlichkeitsstörung? Was unterscheidet eine Zwangsneurose von einer Phobie? Welche Rolle spielen die Gene bei der Entwicklung psychischer Störungen? Wo liegt die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“? Und falls krank: Welche Therapieverfahren versprechen die besten Heilungschancen?

Die Autoren des Lehrbuchs Klinische Psychologie und Psychotherapie, unlängst in zweiter Auflage erschienen, versuchen Antworten auf diese und andere Fragen zu liefern. Gelingt es ihnen?


Prüfungswissen im Blick

In den ersten Kapiteln wird der Leser ins psychologische Grundlagenwissen eingeführt. Diverse Teildisziplinen der Psychologie werden angerissen, die biochemischen Grundlagen des Nervensystems dargestellt und auf neurowissenschaftliche und psychopharmakologische Grenzdisziplinen vertieft eingegangen.

Editorial

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Im zweiten Teil erfolgt dann schließlich die Einführung in unterschiedliche Therapieverfahren, die den Übergang von der Diagnose zur Intervention verdeutlichen sollen. Die Ausführlichkeit der Kapitel bemisst sich hierbei nach der Erfolgsrate der jeweiligen Therapieformen: Will man Genaueres über das jeweilige Verfahren und seine praktische Anwendung lernen oder sich als Psychotherapeut in einer bestimmten Richtung qualifizieren, muss man zu anderen Werken greifen. Im Wittchen/Hoyer gibt’s nur das Notwendigste für den Fall aller Fälle (Prüfungen!). Wer sich zum Beispiel für psychoanalytische Verfahren interessiert, landet mit diesem Lehrbuch in der Sackgasse. Ein weiterer Schwachpunkt ist das starre Konzept der Verfasser, von den Symptomen zur Diagnose und schließlich zur passenden Therapie zu gehen. Dies verleitet zu einem Schubladendenken, das nur wenig Raum für selbstkritische Fragen lässt.

Dagegen überzeugt das Buch aufgrund des übersichtlichen Aufbaus und allgemeinverständlichen Stils, der keine Prüfungsfrage unbeantwortet lässt. Auch Interessenten aus Nachbardisziplinen und selbst motivierten Laien hilft dieses Buch, ihren Wissenshorizont zu erweitern.


Anschauliche Fallbeispiele

Anschaulich dargestellte Grafiken, Fotos und farbige Markierungen unterstützen den schnellen Lernerfolg. Das theoretische Faktenwissen wird durch Beispiele aus experimentellen Studien und dem klinischen Alltag ergänzt. So lernen wir auf Seite 880 die 57-jährige Geschäftsfrau M. kennen, die aus eigener Initiative zur Behandlung kommt, weil sie seit einigen Wochen ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann – und erhalten quasi nebenbei eine praxis­nahe Einführung in das Krankheitsbild der Depression.

Lobenswert sind ferner die großzügigen Tabellendarstellungen, die das Wichtigste kompakt zusammenfassen und dort Überblick schaffen, wo ihn der Psycho­logiestudent braucht. Etwa bei der diagnostischen Klassifikation psychischer Störungen, in der die Symptome und Symptom-Gruppen dem jeweils entsprechenden Krankheitsbild nach der ICD-10- und DSM-IV-Systematik zugeordnet werden.

Selbst bei der Lektüre des letzten Lehrbuchabschnitts, in dem die Krankheitsbilder im Detail erklärt und ihre Therapiemöglichkeiten diskutiert werden, erfährt der Leser noch so manches „Aha!“-Erlebnis. Etwa wenn deutlich wird, wie das Zusammenspiel der verschiedenen psychosozialen, genetischen und kulturellen Faktoren die Gesamtheit einer psychischen Störung schaffen.

So ist zwar bei der Schizophrenie bekannt, dass diese zu 80 Prozent erblich bedingt ist – doch erst die Umweltfaktoren und der Lebensweg des Patienten (Migration, Stadtleben, Cannabiskonsum und so weiter) führen zu unterschiedlichen Phänotypen der Krankheit.


Ans Internet angebunden

Angesichts der rapide wachsenden Zahl von Leichenrednern, die seit Jahren das Ende der gedruckten Medien beklagen, hat sich der Springer-Verlag auf die digitale Zukunft eingestellt und eine umfangreiche Webseite auf die Beine gestellt. Unter www.lehrbuch-psychologie.de erhalten Dozenten sämtliche Abbildungen, Tabellen und Übersichten des Lehrbuches für die Lehre; ferner findet man unter anderem das Erratum, das Glossar, ein „Lerncenter“ mit Prüfungsfragen und einige Probekapitel zum Lesen – sowie eher dröge Kurzbio­grafien der Herren Wittchen und Hoyer.

Außer dem neuen Wittchen & Hoyer gibt es kein Lehrbuch in deutscher Sprache, das all die verschiedenen Facetten der Klinischen Psychologie und Psychotherapie auf rund 1.000 Seiten vereint. Selbst der bereits in die 13. deutsche Auflage gehende amerikanische Klassiker „Klinische Psychologie“ von James Butcher und Joll Hooley (Pearson Studium) schafft dies nicht. Die Autoren haben gute Arbeit geleistet.


Letzte Änderungen: 24.04.2012