Generationswechsel
Botanik-Lehrbücher kratzen längst an der 1000-Seiten-Marke. Die „Strasburger“-Alternative aus dem Hause Thieme ist da keine Ausnahme.
Ach herrje! Die Allgemeine Botanik des Marburger Biologieprofessors Wilhelm Nultsch, die Generationen von Studenten das Fach Botanik näher gebracht hat, ist nicht mehr! Im Februar 2008 folgte der Lehrbuchklassiker nach elf Auflagen in 44 Jahren seinem inzwischen 84-jährigen und längst emeritierten Autor in den Ruhestand. Der „Nultsch“ hat seinen Lesern das wichtigste Botanikwissen verständlich, in kurzer Form und ohne viel Ballast vermittelt; das kompakte, nur 600 Gramm schwere Taschenbuch passte in jedes Studentenbudget und in jede Tasche. Man konnte es überall lesen: in der Straßenbahn, in der Badewanne oder während der Botanikklausur unter dem Tisch.
Vor allem Letzteres sollte man mit dem 1,7 Kilogramm schweren, bedeutend umfangreicheren und entsprechend teureren Nachfolger nicht versuchen. Dafür steht in Allgemeine und molekulare Botanik, verfasst von Elmar Weiler (Pflanzenphysiologe und Rektor der Ruhr-Universität Bochum) und Lutz Nover (Zellbiologe am Biozentrum Niederursel der Uni Frankfurt) aber mehr drin. Der Schwerpunkt des in Zusammenarbeit mit Altmeister Nultsch entstandenen Lehrbuchs liegt bei den molekularbiologischen und biochemischen Grundlagen des pflanzlichen Zellgeschehens.
Schon beim ersten Durchblättern fällt die für Thieme-Lehrbücher typische Struktur auf: durchgängig farbige Gestaltung, viele Abbildungen, markierte Merksätze, orangefarbene Boxen für spezielle Sachverhalte. In grünen „Plusboxen“ findet man interessante Zusatzinformationen, etwa übers Bierbrauen, die asexuelle Embryogenese und mehr. Jedes Kapitel wird durch eine kurze Zusammenfassung eingeleitet. Ein Glossar gibt es nicht, dafür aber ein Sachverzeichnis mit farbigen Markierungen, die auf Erläuterungen zu den Begriffen im Text hinweisen.
Ein nach Kapiteln gegliedertes Literaturverzeichnis ist ebenfalls vorhanden; wozu nur?, fragt sich da die Rezensentin. Der typische Leser, sprich: Student, wird weder Zeit noch Lust haben, zusätzlich zum reichlichen Lernstoff auch noch die Primärliteratur nachzulesen. Das muss er als Doktorand noch früh genug.
Nultsch noch kein altes Eisen
Der „Weiler/Nover“ ist in 20 Kapitel unterteilt von denen die ersten zwölf von Co-Autor Weiler stammen. Sie behandeln zum Beispiel „Organisationsformen der Pflanzen“, „Kormus“ oder „Mineralstoff- und Wasserhaushalt“, mithin die Botanik im klassischen Sinne. Die restlichen acht Kapitel sind von Co-Autor Nover, der, wenn er nicht gerade Lehrbücher schreibt, am Main die molekulare Zellbiologie der Stressantwort erforscht. Darin geht es um Themen wie „Genetik und Vererbung“, „Genexpression und ihre Kontrolle“ oder sein Hausthema „Pflanzen und Stress“.
Was sich in elf Auflagen im „Nultsch“ bewährt hat ist immer noch gut – vor allem bei Themen, in denen es in letzter Zeit wenig neue Erkenntnisse gab. Das scheinen sich zumindest die Autoren gedacht zu haben, und so kamen der Rezensentin einige Passagen recht vertraut vor. Zum Beispiel die Kapitel „Innere und äußere Organisation der Sprossachse“, „Blatt“ und „Wurzel“. Die wurden im neuen Lehrbuch zwar zum Kapitel „Kormus“ zusammengefasst; dieses dann aber in die Unterpunkte „Sprossachse“, „Blatt“ und „Wurzel“ unterteilt, und die unterscheiden sich, abgesehen von einigen zusätzlichen Abbildungen, kaum von den betreffenden Passagen im alten „Nultsch“.
Andere Kapitel, wie zum Beispiel „Fortpflanzung und Vermehrung bei Niederen und Höheren Pflanzen“ wurden dagegen komplett überarbeitet und wieder andere, wie zum Beispiel der Abschnitt über „Biotische Stressoren“, sind komplett neu.
Die Autoren stellen hohe Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit ihrer Leser. Allgemeine und molekulare Botanik ist kein Lehrbuch, das man mal eben nebenher liest, weil gerade kein Kommilitone in die Cafeteria mitkommen mag. Die Texte sind aufgrund einer Fülle von Fachbegriffen und komplexen Inhalten zum Teil schwer verdaulich. Man vermisst ein Glossar, denn vor allem Botanik-Neulinge dürften oft auf Begriffe stoßen, die sie nicht kennen. Das Sachverzeichnis kann dieses Manko nicht kompensieren, da man, wenn man einen Begriff sucht, erstmal ewig vor- und zurückblättern muss, bevor man diesen endlich im Text erläutert findet. Trotzdem ist der „Weiler/Nover“, nicht zuletzt wegen des gut stukturierten Aufbaus, der vielen Abbildungen und der interessanten Zusatzinformationen in den Boxen und „Plusboxen“, ganz gut gelungen.