Editorial

Buchbesprechung

von Maja Klug




Simon Ings:
Das Auge – Meisterstück der Evolution

Gebundene Ausgabe: 397 Seiten
Verlag: Hoffmann und Campe (April 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3455500722
ISBN-13: 978-3455500721
Preis: Restexemplare ab EUR 14,85

Schau mir in die Augen...

Ein rundum gelungenes Sachbuch über den hochentwickelten und doch fehleranfälligen Hauptsinn des Menschen.

Wimperntusche, Lidschatten, Augenfältchencreme – das Homo-sapiens-Weibchen neigt dazu, seine Augen besonders in Szene zu setzen, um den Betrachter zu beeindrucken (siehe oben rechts). Potentielle Paarungspartner (oben links) schauen ihr schließlich als erstes in die Augen – angeblich. Zumindest hat die Natur das Auge als wichtiges Kommunikationsorgan einge­plant. Das Auge, ein Sachbuch des britischen Roman- und Drehbuchautors Simon Ings über die Geschichte des wichtigsten menschlichen Sinnesorgans, lässt manche Wahrnehmung in einem anderen Licht erscheinen. Und, wie Ings deutlich macht: Das Sehorgan kann sehr leicht an der Nase herumgeführt werden. Dazu später.


Jeder sieht die Welt anders

Ich seh’ etwas, was du nicht siehst und das ist... blau. Ein beliebtes Ablenkungsmanöver für Kinder, die sich auf langen Auto- oder Bahnfahrten gerne in quengelnde Nervensägen verwandeln. Doch Vorsicht, hier lauert Streitpotential. Möglicherweise stellt sich nach langem erfolglosen Raten heraus, dass Papas Pulli für den Dreikäsehoch auf der Rückbank violett ist und nicht blau, wie von der Mama behauptet. Jeder Mensch sieht die Welt anders, obwohl menschliche Augen baugleich sind. Warum? Und wie sehen die Augen anderer Lebewesen ihre Umwelt? Was sehen wir wirklich und was vermuten wir nur? Ings geht diesen Fragen auf den Grund und lässt den Leser anhand zahlreicher Beispiele Erstaunliches über seine persönliche Wahrnehmung, über Realität und Täuschung erfahren. Er beschreibt die Architektur und Funktionsweise des menschlichen Auges ebenso wie die Augen von Riesenkalmar oder Einsiedlerkrebs.



Anschaulich verpackt

Im Kapitel „Umgang mit Licht“ wird der Leser eingeladen, Lichtwellen in Form von Seilbewegungen zu imitieren und sich auf diese Weise Polarisierung zu vergegenwärtigen. Den dabei als Filter dienenden Lattenzaun hat man als engagierter Sachbuchleser ja griffbereit. Experimente dieser und ähnlicher Art ermöglichen es auch Mitmenschen, die mit der Physik auf Kriegsfuß stehen (aber das nötige Equipment in Hof und Garage besitzen), sich mit den Grundlagen der Optik anzufreunden.

Vom Phänomen der Beugung (eine kurze Anleitung zur Veranschaulichung der Ablenkung von Wellen findet sich in Kapitel 4) bis hin zur optischen Täuschung oder zum Nachweis für die Existenz des „blinden Flecks“ darf experimentiert werden. Immer wieder wird der Leser um Jahre beziehungsweise Jahrhunderte zurückversetzt und analysiert mit Forschern wie Purkinje (18./19. Jahrhundert), Kühne (19. Jahrhundert) und Gehring (20. Jahrhundert) den Vestibulo-Okularreflex, Netzhautpigmente, Fruchtfliegengene und dergleichen. Ings diskutiert deren Ansichten und Interpretationen mit dem Wissenstand von heute und lässt es sich dabei nicht nehmen, hin und wieder persönlich erlebte beziehungsweise historische Kurzgeschichten zu erzählen.


Fehleranfälliges Organ

So wird bald klar, warum Ings das Auge als „Meisterstück der Evolution“ bezeichnet – mal abgesehen davon, dass sich das menschliche Auge erschreckend simpel hinters Licht führen lässt. Doch unsere Augen können viel mehr als „nur“ sehen. Ob Homo sapiens will oder nicht, seine Augen kommunizieren mit der Umwelt und geben verlässliche Auskunft über den wahren Gemütszustand des Gegenübers. Einstudierte Grimassen vermögen sie nicht zu täuschen. Außerdem behauptet der Autor (mit prominenter Unterstützung des deutschen Universalgelehrten Herrmann von Helmholtz): Dinge sehen heißt Vermutungen anstellen. Diese setzen voraus, dass man eine gewisse Vorstellung davon hat, um welches Ding es sich handelt. Klingt logisch. Doch folgerichtig fragt Ings anschließend: Wo ist dann die Grenze zwischen Sehen und Denken beziehungsweise Sehen und Erinnern? Die Antwort können wohl nur Philosophen geben.

Die gelungene Mischung aus Daten und Fakten, Biologie und Physik, Philosophie, Psychologie und Humor macht Ings’ Werk zu einem unterhaltsamen Sachbuch für jeden, der mehr über seinen wichtigsten Sinn erfahren möchte. 23 Euro, die sich wirklich lohnen.


Letzte Änderungen: 07.06.2011