Editorial

Von Mitteln zum Zweck

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(24.04.2024) Interventionen von außen sorgen für Reaktionen im Organismus – klar! Einige zelluläre und biochemische Systeme wurden sogar extra entwickelt, um sich gezielt regelmäßigen und/oder unausweichlichen Interventionen anzunehmen – zum Beispiel das Verdauungssystem oder Teile des Immunsystems.

In den vielen Fällen plötzlicher oder sporadischer Intervention ist das jedoch anders: Die Systeme, die diese molekular und biochemisch aufgreifen, sind in der Regel nicht explizit dafür da. Vielmehr haben sie sich ohne solche Interventionen für ganz andere Funktionen im Organismus entwickelt und etabliert. In solchen Fällen wirken sie demnach allenfalls als bestes „Mittel zum Zweck“.

Nehmen wir zum Beispiel Cannabis – nicht weil gerade eine gewisse politische Aktualität in ihm steckt, sondern weil es einfach ein schönes Beispiel abgibt. Wie unser Organismus auf „Cannabis-Intervention“ reagiert, dürfte bekannt sein – sicher auch denjenigen, die keine eigene Erfahrung damit haben. Verursacht wird die psychoaktive Wirkung vor allem durch den Inhaltsstoff Tetrahydrocannabinol (THC) der Hanfpflanze Cannabis sativa. Dessen Struktur wurde 1964 publiziert; die beiden Cannabinoid-Rezeptoren, an die es bindet – CB1R im zentralen Nervensystem und CB2R in Immunzellen – betraten in den späten Achtzigerjahren die Bühne der Forschung.

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Klar war allerdings: Diese Rezeptoren sind weder für sporadische THC-Interventionen noch für deren psychoaktive Wirkung gemacht. Dafür sind sie, wie gesagt, allenfalls „Mittel zum Zweck“. Wofür aber dann?

Man weiß es nicht wirklich. Eine Handvoll Endocannabinoide sind inzwischen identifiziert – allesamt sind sie Arachidonsäureanaloga, der wichtigste Vertreter ist Anandamid (AEA). Damit stellen sie THC-ähnliche Moleküle dar, die der Körper selbst produziert und die daher potenziell über ihre Bindung an die Cannabinoid-Rezeptoren die eigentlich vorgesehenen Wirkungen des Systems vermitteln. Die psychoaktiven Wirkungen, die THC auslöst, bekommt man durch die Endocannabinoide jedoch nicht mitgeliefert. Außer, wenn man Schmerzdämpfung und Appetitanregung dazurechnet.

Welches aber sind dann die Wirkungen des natürlichen Endocannabinoid-Systems? Ein Review listete kürzlich Effekte bei folgenden Prozessen auf: Stoffwechsel, Entzündungen, Immunabwehr, Stimmung, Lernen und Gedächtnis, motorische Kontrolle, Schlaf, Herz-Kreislauf-System, Muskelaufbau, Knochenumbau und -wachstum, Leberfunktion, Fortpflanzung, Stressreaktion, Haut- und Nervenfunktion. Um schließlich als Quintessenz zu verkünden: „Das Endocannabinoid-System spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung (Homöostase) interner Prozesse. Aber es gibt immer noch viel, was wir nicht darüber wissen.“ Hmm, ...?

Eine ähnliche Geschichte liefert interessanterweise die „Intervention Alkohol“. Bekanntlich wandelt die Alkoholdehydrogenase das in den Getränken enthaltene Ethanol in das giftige „Kater-Molekül“ Acetaldehyd um. Glücklicherweise baut die mitochondriale Aldehyddehydrogenase ALDH1B1dieses zum viel weniger schädlichen Acetat um, das schließlich in Kohlendioxid und Wasser zerfällt. Allerdings dürfte dies auch hier nicht der ursprüngliche Hauptjob des Enzyms sein. Und siehe da: Für ALDH1B1 gibt es ebenfalls eine Art Liste. Diese hält allerdings nur fest, bei welchen Krankheiten Überexpression und verstärkte Aktivität des Enzyms beobachtet wurden – nämlich gleich bei mehreren Krebsarten und bei Diabetes.

Allerdings muss das Enzym auch eine „gesunde“ Rolle spielen. Aktueller Kandidat: die antivirale Immunabwehr. Eine neue Studie beschreibt jedenfalls, dass ALDH1B1 die Replikation von Zika-, Dengue- und Influenza-Viren hemmt, indem es die Produktion von Immunzellen-aktivierenden Interferonen hochfährt (Sci. Signal., doi.org/mnhx).

Doch halt: Virenabwehr? Also womöglich doch für Interaktionen mit bestimmten Interventionen von außen entwickelt? Und zufällig auch das beste „Mittel zum Zweck“ für ganz andere?

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