Editorial

Neuraminidase-Hemmer

von Paul Seitz (Laborjournal-Ausgabe 04, 2006)


Sie sind Verwandte der Magnolien - die Bäume und Sträucher der Gattung Sternanis. Ihre japanische Art Shikimi gab einem Stoff den Namen, der zur Zeit in rauen Mengen zum Grippemittel Tamiflu verarbeitet wird: die Shikimi-Säure.

Sie findet sich relativ rein in den Sternanis-Arten, die in China kultiviert werden und statt des giftigen Namensgebers als Rohstoffquelle dienen. Das organische Ringmolekül wirkt indessen nicht selber gegen Influenza-Viren, sondern man muss ihm aufwändig die passenden funktionellen Gruppen anhängen. Von der Shikimi-Säure bis Tamiflu sind zehn Synthesestufen zu durchlaufen, was laut Hersteller Roche ein halbes Jahr benötigt.


Schlüssel ins Schloss

Tamiflu (Wirkstoff: Oseltamivir) gehört zusammen mit Relenza (Wirkstoff: Zanamivir) zu den Hemmstoffen der Neuraminidase. Dieses virale Enzym steckt im allerorts kursierenden Kürzel H5N1: Zusammen mit dem Hämagglutinin (H) gehört die Neuraminidase (N) zu den Oberflächenproteinen der Influenzaviren und wird zu deren Klassifizierung verwendet. Beim Hämagglutinin gibt es 15, bei der Neuraminidase 9 Obervarianten.

Das Enzym hat die Aufgabe, Neuraminsäure-Reste abzubauen, die dem Virus-Rezeptor auf der Oberfläche der Wirtszelle angehören. Nach der Vermehrung im Zellinneren und der Abscheidung nach außen haften die Erreger zunächst noch an den Rezeptoren, bis die Neuraminidase die Verbindung kappt und den Viren freie Fahrt zur weiteren Vermehrung im Organismus gibt. Tamiflu und Relenza sind Moleküle, die der Neuraminsäure ähneln und deshalb das aktive Zentrum der Neuraminidase besetzen. Das Enzym wird also kompetitiv gehemmt, die Ausbreitung des Virus eingedämmt!

Relenza, das als erster Neuraminidase-Hemmer eine Arzneizulassung erhielt, wurde nicht zufällig entdeckt, sondern gezielt gesucht. In den achtziger Jahren kannte man die Struktur der Neuraminsäure und eines prototypischen Moleküls, mit dem sich die Neuraminidase pharmakologisch blocken ließ. Pharmazeuten der Melbourner Firma Biota forschten mit diesem Vorwissen nach einem optimierten Teilchen, das ins aktive Zentrum des Enzmys passen sollte wie der Schlüssel ins Schloss. Mit Zanamivir fanden sie einen hochselektiven Hemmstoff für die Neuraminidase der Influenzaviren.

Relenza muss inhaliert werden, um in ausreichender Menge an den Wirkort, die Atemwege, zu gelangen. Dagegen wird Tamiflu, später bei der Firma Gilead in Kalifornien entwickelt, über den Magen-Darm-Trakt aufgenommen und über die Blutbahn verteilt. Seine Wirkung ist daher nicht auf die Atemwege begrenzt, was bei besonders invasiven Viren ein Vorteil sein kann. Tamiflu hat Relenza inzwischen den Rang abgelaufen, vor allem auch weil es leichter ist, eine Pille zu schlucken.

Zum Verkaufshit wurde Tamiflu jedoch erst, nachdem die WHO die Neuraminidase-Hemmer zum Bestandteil ihres Influenza-Pandemie-Plans machte. An die Länder der Welt ging der Rat, Vorräte anzulegen. Mit der Verbreitung der Vogelgrippe stieg dann die Nachfrage: Allein im ersten Halbjahr 2005 verfünffachte sich der Umsatz auf 580 Mio. Schweizer Franken.


Es muss nicht immer Anis sein

Inzwischen lässt sich Tamiflu auch ohne Sternanis herstellen. Rund ein Drittel der eingesetzten Shikimi-Säure erzeugt Roche bereits biotechnisch durch modifizierte Kolibakterien. Auch petrochemische Alternativen sind bereits ausgearbeitet worden, zuletzt durch Tokyoter Forscher um Masakatsu Shibasaki. Als Analogon der Shikimi-Säure stellten sie 1,4-Cyclohexadien her. Das im Februar präsentierte Verfahren, das sich die mit dem Nobelpreis bedachte asymetrische Katalyse zu Nutze macht, soll sich eignen, um auch bei Mutationen der Neuraminidase flexibel zu reagieren.

Doch so spannend ihre Entwicklung und so millionenschwer ihr Markt ist - was können Tamiflu und Relenza in der Praxis? Wie groß ist ihr Nutzen? Eine einigermaßen gesicherte Antwort gibt es dabei nur in Bezug auf die Wintergrippe. Sie lautet im Kern: Im Vergleich zur Plazebo-Behandlung senken beide Neuraminidase-Hemmer die Erkrankungsdauer um ein bis zwei Tage (zum Beispiel von 6,5 auf 5 Tage in einer Studie mit Relenza). Bei Menschen mit chronischen Herz- oder Atemwegserkrankung schwindet dieser Effekt jedoch. In Deutschland ist nur Tamiflu auch zur vorbeugenden Einnahme zugelassen. Nach engem Kontakt mit einem Grippekranken senkt das Mittel die Wahrscheinlickeit krank zu werden von rund sieben auf ein Prozent. (Übersicht in: Arznei-Telegramm 36, S. 62).


Besser als nichts

Ende Januar erregte eine Cochrane-Gruppe aus dem italienischen Alessandria Aufsehen, die 19 Studien zu Tamiflu und Relenza zusammenfasste (Jefferson, T. et al., Lancet 367, S. 303). Ein Akzent der Auswertung lag auf der vorbeugenden Wirkung, und sie führte zu keiner grundlegend neuen Einschätzung. Zu Recht schlossen die Autoren: Wenn wir eine Grippe-Epidemie an der Ausbreitung hindern wollen, sind Neuraminidase-Hemmer vielleicht eine Hilfe, bis der Erreger-spezifische Impfstoff bereitsteht. Doch sie sind keine Wunderwaffe. Was für Epidemiologen nichts Neues war, fand damals durch die Schlagzeilen der Allgemeinpresse in die öffentliche Wahrnehmung.

Die Vogelgrippe hat bis heute nur einzelne Menschen getroffen, und die empirische Basis ist zu klein, um die Wirksamkeit der Neuraminidase-Hemmer zu bejahen oder zu verneinen. Weit mehr als Tamiflu beruhigt die Tatsache, dass die Erreger nicht effektiv von Mensch zu Mensch überspringen. Ob oder wann eine für den Menschen epidemische Influenza-Mutante auftaucht und ob sie sich dann vom Vogelvirus ableitet, weiß heute niemand. Auch nicht, wie ihre Neuraminidase aussehen wird.



Letzte Änderungen: 24.04.2006