Editorial

Cytomegalie-Virus

von Winfried Köppelle (Laborjournal-Ausgabe 09, 2000)


"Die genetische Information kann bei Viren DNA oder RNA sein, nicht aber beides gleichzeitig." So steht es im Dictionary of Virology von Rowson, Rees und Mahy. Jahrzehntelang büffelten die Erstsemester dieses "Grundgesetz" der Biologie in ihren Einführungsvorlesungen.

Doch Dogmen sind dazu da, gestürzt zu werden, und somit können Uni-Dozenten jetzt ihre Vorträge umschreiben. Ende Juni veröffentlichten Wade Bresnahan und Thomas Shenk von der New Yorker Princeton-Universität eine Aufsehen erregende Entdeckung: Die US-Forscher fanden, dass der humane Cytomegalovirus (HCMV), ein gigantischer DNA-Herpesvirus, nicht nur über 200 Gene und zahlreiche Proteine, sondern verblüffenderweise auch RNA enthält. Vier verschiedene Sorten mRNA sogar, um genau zu sein (Science 288, S. 2373).


HCMV: Meistens harmlos, bei Immunschwäche problematisch

HCMV ist kein Unbekannter: Jeder zweite Mensch ist mit ihm infiziert. Gesunden vermag das ungewöhnlich grosse, viröse DNA-Proteinpaket kaum etwas anhaben. Ein leichtes Grippegefühl vielleicht, während die winzigen Angreifer vom Immunsystem bereits dezimiert werden. Allerdings überdauern HCMV-Restbestände im Knochenmark in den myeloiden Vorläuferzellen, wo sie vor dem menschlichen Verteidigungsapparat geschützt sind. Problematisch wird diese latente Persistenz der Viren, wenn irgendwann einmal das Immunsystem schwächelt, etwa bei AIDS-Kranken, oder absichtlich unterdrückt ist, etwa nach Transplantationen. Dann können sich Organe wie Lunge, Leber, Herz oder Auge schwer entzünden. Zur Cytomegalie-Therapie wird bei Transplantierten das Nucleosidanalogon Ganciclovir eingesetzt, welches die DNA-Synthese unterbricht und so die virale Vervielfachung verhindert.

Jetzt fesselt HCMV auch die Grundlagenforscher: Bresnahan und Shenk fanden die zusätzlichen Viren-RNAs durch Array-Screening: Als Ziel diente auf Membranen aufgespottete, PCR-amplifizierte DNA aller 208 HCMV-Leserahmen. Darauf gaben die US-Forscher radioaktiv markierte cDNA-Sonden aus isolieren Viruspartikeln. Die Kontrollen (Northern Blots, Dichtegradienten-Zentrifugation, Antibiotika-Assays) bestätigten es: Der DNA-Virus besitzt auch RNAs, vier an der Zahl.

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In vivo stecken diese Ribonukleinsäuren höchstwahrscheinlich zwischen dem äußeren Envelope (der auf der Zellmembran verbleibt) und dem inneren Kapsid (das ins Zellinnere eindringt): In einer als Tegument bezeichneten, amorphen Proteinschicht. Tegument-Proteine sind quasi das Pionier-Bataillon des Virus. Sie schwärmen in die attackierte Zelle aus und schaffen eine Umgebung, in der sich Kapsid samt DNA wohlfühlen und die Zellmaschinerie für eigene Zwecke nutzen können. Welche Funktion haben die Proteine, die durch die jetzt gefundenen RNAs kodiert werden? Keiner weiß es.


DNA-Viren mit RNA-Fracht: Schneller, organisierter, raffinierter?

Warum überhaupt enthalten HCMV-Partikel neben DNA und Proteinen zusätzliche, "vor der Zeit" hergestellte Ribonukleinsäuren? Unnötiger Ballast, sollte man meinen. Schliesslich wird der virale Eindringling ohnehin die Synthese-Maschinerie der attackierten Wirtszelle mißbrauchen, um sich seine mRNAs herzustellen. Ein Punkt könnte der Zeitvorteil gegenüber der sich wehrenden Zelle sein. In einem der vier Fälle, nämlich dem der UL21.5-RNA, glauben die Verfasser des Science-Papers einen weiteren Grund zu kennen: Der Zielort des UL21.5-Proteins ist das endoplasmatische Reticulum, und um dorthin zu gelangen, benötigt es eine Signalsequenz. Läge UL21.5 bereits als fertiges und damit signalloses Protein in HCMV vor, bliebe es ausgesperrt. Doch auch strukturelle Funktionen der RNAs sind denkbar. Doch egal, welche Vermutung sich schließlich als richtig erweisen wird - die eingangs zitierte Virus-Definition im Dictionary of Virology dürfte jedenfalls hinfällig sein.



Letzte Änderungen: 20.10.2004