Editorial

100.000 Genome

(25. August 2014) Großbritannien hat angekündigt, umgerechnet etwa 380 Millionen Euro in das „100.000 Genomes Project“ zu investieren. Krebspatienten und Menschen mit seltenen Erberkrankungen stehen im Mittelpunkt der Initiative, die das britische Gesundheitsministerium unter dem Namen Genomics England betreibt.
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Mehrere Forschungseinrichtungen beteiligen sich am „100.000 Genomes Project“, unter anderem das als Genetik-Mekka bekannte Sanger Institute bei Cambridge. Bis 2017 will das Konsortium das Ziel der 100.000 Genom-Sequenzierungen erreichen, wobei Patienten der staatlichen Krankenversicherung NHS um Mithilfe gebeten werden. Universitäten, Krankenhäuser und Industrie wollen die Rohdaten gemeinsam generieren.

Besonderes Augenmerk kommt dabei natürlich den Sequenz-Unterschieden zwischen Patienten- und Referenzgenom zu. In diesem annotierten Datensatz müssen die Genomiker schließlich die potenziell krankheitsverursachenden Mutationen von den vielen harmlosen Sequenz-Varianten unterscheiden. Wie zuvor beim Humangenom-Projekt, an dem das Sanger Institute ebenfalls maßgeblich beteiligt war, wird die eigentliche wissenschaftliche Arbeit erst beginnen, wenn die Sequenzierer ihre Arbeit getan haben. Auch die weltweite Forschergemeinschaft wird Zugang zu den aufgereinigten Rohdaten erhalten, unter Beachtung der Daten- und Patientenschutz-Richtlinien.

Seltene Erbkrankheiten: eine Herausforderung für die Humangenomik.

Das Programm schließt an das bereits bestehende Projekt „Deciphering Developmental Disorders“ (DDD) an, das gezielt nach genetischen Ursachen von seltenen Krankheiten gesucht hatte, die im Kindesalter auftreten. Etwa sechs Prozent der Bevölkerung sind von solchen seltenen Erbkrankheiten betroffen. Oft haben die Mediziner dabei keinerlei Anhaltspunkt für die genetische Ursache. Denn nur bei wenigen Erbkrankheiten sind die entsprechenden Gendefekte bekannt, und selbst dann ist die Rolle der betroffenen Gene in der Entstehung des Krankheitsbildes oft unklar.

Anders als der Nachfolger „100.000 Genomes Project“ beschränkte sich DDD allerdings auf die Sequenzierung der 19.000 bekannten Protein-kodierenden Genabschnitte. Bereits hier konnten die Forscher bei vielen einzigartigen Patientenfällen bestimmte Gendefekte entdecken und damit eine mögliche Krankheitsursache zuordnen. Wenn nun bald gesamte Genomsequenzen vieler Tausend Patienten vorliegen, sollte es möglich sein, potentiell ursächliche Mutationen auch außerhalb der kodierenden Sequenzen aufzuspüren. Diese könnten beispielsweise regulatorisch an der Expression eines oder mehrerer Gene beteiligt sein.

Im zweiten Projektteil will Genomics England die Genome von Krebspatienten sequenzieren, zusammen mit den Genomen des Tumorgewebes dieser Patienten. Dieser Vergleich ist äußerst sinnvoll, denn transformierte Zellen sammeln während der Krebsentstehung Mutationen und chromosomale Anomalien an. Ein aggressiver Tumor unterscheidet sich also genetisch vom umgebenden gesunden Gewebe. Zudem sind Tumore verschiedener Patienten genetisch höchst verschieden, selbst wenn sie zum gleichen Gewebetyp gehören. Daher sprechen manche Patienten relativ gut auf eine bestimmte Therapie an, und manche gar nicht. Dies betrifft Breitspektrum-Behandlungen wie Strahlen- oder Chemotherapie, aber auch neuartige pharmakologische Ansätze, die sich gezielt gegen bestimmte Biomarker oder Onkogene richten. Erschwerend kommt hinzu, dass sogar individuelle Tumore genetisch heterogen sind.

Entscheidende Unterschiede zwischen Tumor und gesundem Gewebe

Aus all diesen Gründen ist es eine Mammutaufgabe, primäre Ansatzpunkte für die Krebstherapie zu finden. Das 100.000 Genomes Project wird hier durch den Vergleich vieler unabhängiger Datensätze mehr Klarheit schaffen. Die Wissenschaftler hoffen also, mithilfe der Genomanalysen herauszufinden, welche somatischen Mutationen tatsächlich eine unmittelbare Krebsgefahr für den Menschen darstellen. Vor allem aber sollen die relevanten genetischen Unterschiede zwischen Tumor und gesundem Gewebe herausgearbeitet werden, die dann im nächsten Schritt eventuell zu Therapieansätze führen könnten.

Als Beispiel für das Prinzip nennt der Projekt-Webauftritt die bereits bekannte Überexpression des Rezeptors HER2 bei bestimmten Brustkrebsarten. Diese Patientinnen sprechen auf eine gezielte Therapie mit Antikörpern an, die spezifisch gegen den überexpremierten Rezeptor gerichtet sind.

Seit dem Projektstart Ende 2012 hat das Konsortium allerdings erst 100 Patientengenome sequenziert. Bis vor kurzem gab es (unter Berücksichtigung der Kosten) keine Sequenziergeräte, die der Aufgabe gewachsen waren. Die ermittelten Sequenzen müssen zudem absolut zuverlässig sein; es geht schließlich um die Suche nach einzelnen, ursächlichen Mutationen und nicht um fragwürdige, statistische Assoziationen genetischer Marker vom Schlage 23andMe.

Vorsprung durch neue Sequenziertechnologie

Die Projektbetreiber wollen neueste Sequenziertechnologie anschaffen und alle Daten mit bestehenden klinischen Methoden gegenprüfen. Mit exponentiell wachsenden Technologie-Kapazitäten und gleichzeitig sinkenden Sequenzierkosten will das Konsortium bis Ende des Jahres die Marke von 1000 Genomen erreichen und bereits 2015 10.000 Sequenzen fertigstellen.

Das 100.000 Genomes Project verspricht den teilnehmenden Patienten keine Aussicht auf Heilung – das wäre auch unverantwortlich. Nur diejenigen Patienten könnten eventuell schon bald profitieren, deren Gendefekte schon heute klinisch zuzuordnen sind und für deren spezielle Krankheit bereits Therapieansätze existieren. Die teilnehmenden Patienten helfen aber mit, einen wertvollen Datenschatz zu generieren, der die Forschung voranbringt. Die Projektförderer hoffen jedenfalls, dass individuelle Genomsequenzierung künftig zum Standard-Repertoire der Therapie bei Erbkrankheiten und Krebs gehören wird.

 

Leonid Schneider

 

Abb.: © Mopic - Fotolia.com



Letzte Änderungen: 01.09.2014