Editorial

Nieder mit dem Establishment!

Früher waren Wissenschaftler noch echte Freigeister und die Gesellschaft profitierte davon. Diese These einer Gruppe einflussreicher Wissenschaftler rief Widerspruch hervor: Die  moderne Forschungslandschaft biete mehr Chancen als die damaligen Netzwerke der „Old Boys“. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Ein Kommentar.
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(23. März 2014) Gebt Freigeistern eine Chance! Dreißig teils prominente Unterzeichner, darunter drei Nobelpreisträger, rufen in einem Beitrag in der englischen Zeitung The Guardian dazu auf, sich ein Beispiel an der Zeit vor etwa 50 Jahren zu nehmen, als unabhängige Denker wie der Physiker Richard Feynman die Forscher-Szene dominierten. Vor 1970 habe es demnach zwar viel weniger Wissenschaftler als heute gegeben, die noch dazu mit wenig Geld auskommen mussten. Trotzdem vollbrachten die Forscher damals Pioniertaten, „die das 20. Jahrhundert definierten“, wie die Autoren des Beitrags schreiben.

Das Manifest ist ein wenig nostalgisch verklärt, dürfte aber dennoch einen Nerv der heutigen Wissenschaftlergeneration treffen. Denn muss die Freiheit damals nicht wunderbar gewesen sein? Das Peer Review - System für Anträge und Publikationen war längst nicht so mühsam wie heute. An Fördergelder zu kommen war an weniger Auflagen gebunden. Forscher konnten insgesamt einfach freier atmen. Vor allem konnten sie unabhängiger als heute entscheiden, woran und mit welchen Methoden sie arbeiten wollten.

Permanentes Bewerten und Vergleichen

Heute dagegen fühlt sich mancher Forscher gegängelt: Für die erfolgreiche Antragstellung gilt es, strenge Auslese-und Relevanz-Kriterien zu beachten. Evaluationen ganzer Institute lauern an jeder Ecke. Impact-Faktor, Drittmittelquote, Rankings und andere Kennzahlen bestimmen den Betrieb. Unorthodoxe, riskante Projekte haben in diesem Klima des permanenten Bewertens und Vergleichens kaum eine Chance. Denn wer nicht schon im Antrag die Erfolgsaussichten und den Anwendungsnutzen eines Projekts plausibel belegen kann, riskiert Ablehnung – „zu riskant“ oder „unrealistisch“ heißt es dann in den Gutachten der lieben Kollegen.

Die Folge: Das gegenwärtige System belohnt Konformismus und Zaghaftigkeit, kleine Tippelschritte statt den mutigen Anlauf zum Sprung ins Unbekannte. Und gerade bei prestigeträchtigen Großprojekten ist der einzelne Forscher oft sowieso nur ein Rädchen, das auf dem zugewiesenen Platz reibungslos zu funktionieren hat.

Auch der Laborjournal-Chefredakteur beklagt im aktuellen Heft den Hang mancher Forscher, sich mit dem Füllen kleinerer Wissenslücken zufrieden zu geben – anstatt sich ein ganz eigenes Feld abzustecken, das noch niemand beackert hat.

Wie war das damals wirklich?

Die Unterzeichner des Guardian-Artikels machen nun einen Vorschlag, wie man dem entgegenwirken kann: Um an der goldenen Vergangenheit anzuschließen, sollten wir den „Mavericks“ wieder ein Chance geben, also einem Forschertypus, der mit wenig Respekt für das Establishment ganz eigene Weg geht. Risikobereitschaft und eigenwillige Ansätze müssten belohnt statt bestraft werden.

Klingt gut. Allerdings schwingt in dem Manifest der dreißig unzufriedenen Forscher auch eine Portion Vergangenheits-Verklärung mit. Denn wie war das denn wirklich damals?

Jenny Rohn, Zellbiologin und Gruppenleiterin am University College London, konstatiert in einer Gegenrede, dass Wissenschaft als Beruf lange Zeit nur einer verschwindend kleinen Minderheit privilegierter Menschen offen stand – ganz überwiegend weißen Männern aus der Oberschicht. Da sei die Situation heute doch besser. Gerade die oft kleingeistig anmutenden Gepflogenheiten des Peer Review für Anträge auf Fördergelder und Stipendien sorgten auch für mehr Chancengleichheit. „Die Reihen der Wissenschaftler füllen sich mit Menschen verschiedener Hintergründe, die vor Neugier brennen und Entdeckungen machen wollen. Diese Diversität bringt auch unterschiedliche Wege mit sich, wie Probleme angegangen werden“, schreibt Rohn.

Heureka-Momente

Und dass seit den 70er Jahren nichts Bedeutendes mehr entdeckt worden sei, stimmt natürlich einfach nicht. Man denke an das Humangenom, die Erforschung des HI-Virus, Stammzell- und Klon-Technik und und und.

Mit Zunahme und Spezialisierung des Wissens hat sich aber zwangsläufig die Form des wissenschaftlichen Arbeitens verändert. Weg vom individuellen Einzelprojekt, hin zu großen Teams. „Die Vorstellung des einsamen, genialen Aussenseiter-Wissenschaftlers ist überholt“, meint Jenny Rohn dazu. Nicht der Heureka-Moment, sondern das geduldige Hinzufügen von einzelnen Puzzle-Teilen ist heute charakteristisch für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn.

Und grundsätzlich gefragt: Fehlen die „Mavericks“ heute wirklich? Man denke an Charles Vacanti, den kontroversen Mit-“Erfinder“ der noch kontroverseren „STAP“-Zellen, über die unser Autor Leonid Schneider bei Laborjournal-Online schon mehrfach berichtet hatte. Vacanti ist ein Maverick par excellence, mit mutigen, unorthodoxen Ideen. Einer, der hartnäckig gegen den Mainstream anpubliziert.

Auch das Journal Science zeigte Herz für gewagte Theorien, beispielsweise als es ein seltsames Paper publizierte, das von der Entdeckung einer Arsen-basierten Lebensform berichtete.

Die Zukunft muss zeigen, ob Außenseiter wie Vacanti und seine STAP-Zellen oder die NASA-Autoren des „Arsenic-Life“-Papers der Wissenschaft wirklich zu Höhenflügen verhalfen – oder ob sie uns nicht doch mutwillig in eine Sackgasse führen. Bei anderen Anti-Establishment-Forschern ist die Frage schon beantwortet: Peter Duesberg beispielsweise behauptet, das HI-Virus sei nicht ursächlich für die AIDS-Erkrankung – sicher eine freigeistige Hypothese, aber auch erwiesenermaßen falsch und irreführend. Brauchen wir wirklich mehr davon?

Erbsenzählerei und Kennzahlen-Klamauk

Aber letztendlich, so denke ich, haben beide Positionen der Debatte im Guardian einen wahren Kern. Es ist bedenklich, dass viele Wissenschaftler heute den Angestellten eines strikt geführten internationalen Konzerns gleichen, die sich einer von oben verordneten Firmenphilosophie unterordnen müssen. Solange Erbsenzählerei mit Impact-Faktor-Punkten und ähnlicher Kennzahlen-Klamauk über Forscher-Karrieren entscheiden, gibt es auch kaum Anreize für Nachwuchsforscher, ihrer Kreativität ungehemmten Lauf zu lassen.

Aber andererseits hätte man sich vor 50 Jahren nicht vorstellen können, dass Wissenschaft einmal ein derart kompliziertes und verschachteltes Unterfangen wird. Spielregeln für Qualitätssicherung und Transparenz sind in diesem Umfeld auch ein Gebot der Fairness. Die Kunst bestände darin, die Regeln so zu gestalten, dass sie auch eigenwillige und risikoreiche Spielzüge zulassen.

 

Hans Zauner

Foto: iStock



Letzte Änderungen: 30.09.2015