Editorial

Lebender Klimaindikator

Der Glasschwamm M. chuni lüftet jahrtausendealte Geheimnisse der Tiefsee

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(13. April 2012) Die Lebensbedingungen in der Tiefsee, mehr als 800 Meter unter der Meeresoberfläche, sind wahrlich extrem. Es herrschen absolute Dunkelheit, Kälte und ein enormer Druck. In dieser Umgebung lebt der Glasschwamm Monorhaphis chuni. Ein 11.000 Jahre altes Exemplar verhalf nun einem internationalen Forscherteam um Klaus Peter Jochum vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz lokale Temperaturveränderungen im Ostchinesischen Meer über diese bislang einzigartige Zeitspanne hinweg nachzuweisen.

M. chuni vereint in sich eine Vielzahl faszinierender Eigenschaften: Glasschwämme gehören zu den ältesten vielzelligen Tieren überhaupt, da sie schon mehr als 600 Millionen Jahre auf der Erde vorkommen. Im Gegensatz zu anderen Hexactinellida-Arten ist M. chuni nur mit einer einzelnen Nadel im Meeresboden fixiert. Diese giant basal spicule (GBS) kann bis zu 3 Meter lang und 11 Millimeter dick werden und trägt den weichen Schwammkörper. Der Querschnitt dieser Nadel ähnelt dem eines Baumes mit seinen Jahresringen. Die einzelnen Ringe bestehen aus Siliciumdioxid, also aus Glas, Kollagen und dem Strukturprotein Silikatein und ermöglichen analog zu den Baumringen Rückschlüsse auf das Alter des Tieres. Mit zunehmendem Alter werden aus dem Zentrum heraus immer mehr Lamellen gebildet, was den Durchmesser der Nadel stetig wachsen lässt.

Leider ist es bei M. chuni nicht ganz so einfach wie bei den Bäumen. Man weiß nicht in welchem Zeitraum eine Lamelle gebildet wird und kann somit auch nicht durch einfaches Zählen der Ringe das Alter des Schwammes ablesen. Deshalb griffen die Forscher in die Trickkiste und ermittelten das Alter über einen kleinen Umweg. Analysen von Sauerstoffisotopen und des Verhältnisses von diversen Spurenelementen innerhalb des Nadelskeletts dienten als „Paleothermometer“ und ermöglichten es, die Wassertemperatur im Lebensraum des Schwammes zu bestimmen. Doch damit nicht genug: Die Forscher konnten rückschließen auf die globale Meerestemperatur, da diese in einer Tiefe von unter 1.000 Metern überall gleich ist (Chem Geol 2012, 300:143-51).

Anhand existierender Daten zum Temperaturverlauf der Meere konnte der Geburtstag des Glasschwammes auf einen Zeitpunkt vor 11.000 (±3.000) Jahren festgelegt werden. Im Moment ist kein anderes Tier bekannt, das je ein so hohes Lebensalter erreicht hat! Wie M. chuni es schafft so alt zu werden, ist noch nicht geklärt. Man geht davon aus, dass eine große Anzahl von totipotenten Stammzellen dabei eine wichtige Rolle spielen. Diese verlieren auch über sehr lange Zeiträume hinweg und trotz vielfacher Teilung ihre Stammzelleigenschaften nicht. Aber auch die Bauweise des Schwammes aus extrem stabilem Glas und flexiblem Kollagen trägt ihren Teil zu dessen Langlebigkeit bei.

Die anschließenden Untersuchungen der GBS ergaben weitere Überraschungen: Anhand von Unregelmäßigkeiten der Lamellen und weiteren Analysen der GBS-Zusammensetzung lässt sich erkennen, dass die lokale Meerestemperatur von etwa 2 °C mehrmals temporär auf bis zu 6 °C oder sogar 10 °C anstieg. Über die Gründe für die bisher unbekannten drastischen Temperaturschwankungen kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren, möglicherweise waren jedoch Vulkanausbrüche dafür verantwortlich.

Der unscheinbare Glasschwamm M. chuni besitzt also nicht nur eine Vielzahl rekordverdächtiger Eigenschaften, sondern ermöglicht nun einen groben Überblick über den klimatischen Verlauf der letzten 11.000 Jahre. Wenn auch nur in der Tiefsee.

 


Stefanie Haas
Bild: Werner E. Müller, Uni Mainz



Letzte Änderungen: 01.05.2012
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