Editorial

„Man muss sich klar werden, was das IQWiG ist!“

Interview mit dem Evidenzmediziner Jürgen Windeler

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(11. April 2012) Das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) soll dafür sorgen, dass gesetzlich versicherte Patienten nur nachgewiesenermaßen wirkungsvolle Therapien erhalten. Valérie Labonté sprach mit dem Evidenzmediziner und IQWiG-Chef Jürgen Windeler.

Laborjournal: Das IQWiG scheint ein unbeliebtes Institut zu sein. Zum einen gibt es dauernd Ärger mit Politikern – beispielsweise Kritik vom damaligen Gesundheitsminister Philipp Rösler, der verlauten ließ, das IQWiG sei „volkswirtschaftlich nicht hinnehmbar“. Zum anderen ist es bei der Pharmaindustrie unbeliebt, weil es regelmäßig deren Umsätze verdirbt. Wer mag das IQWiG denn eigentlich?

Jürgen Windeler: Mein Eindruck ist ein ganz anderer, nämlich der, dass die meisten, die das IQWiG kennen, es auch mögen. Auch die Pharmaindustrie mag das IQWiG dann, wenn es positive Bewertungen macht. Ich muss auch zugeben, dass ich das Zitat von Herrn Rösler bisher nicht kannte, was mich ein bisschen wundert. Mir sind keine sehr kritischen Äußerungen aus der ministerialen Ebene oder auch aus dem Ministerium selber bekannt – jedenfalls nicht grundsätzlicher Art.

Warum hört man selten klare Stellungnahmen, die über konkrete medizinische Fragen hinausgehen?

Jürgen Windeler: Man muss sich darüber klar werden, was das IQWiG eigentlich ist. Erstmal ist es ein wissenschaftliches Institut und keine politische Institution, die zu Entwicklungen des Gesundheitssystems Kommentare abgibt. Zweitens arbeitet das IQWiG im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) oder des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). Das mag der Grund sein, dass eine Stellungnahme des IQWiG vermisst wird, wenn es um Schweinegrippe oder etwas anderes gerade durch den Blätterwald Geisterndes geht. Andererseits, in den letzten Wochen – Stichwort Brustimplantate und Medizinprodukte – konnte jeder wahrnehmen, dass das IQWiG sich um diese Dinge kümmert.

Ihr Vorgänger Peter Sawicki war offensiver, deutlicher. Doch er wurde auf Betreiben der Bundesregierung geschasst, weil er offensichtlich zu pharmakritisch war. Was machen Sie anders als Peter Sawicki?

Jürgen Windeler: Ich bin nicht sicher, dass ich etwas grundsätzlich anders mache. Was Sie gerade beschrieben haben, muss gar nicht unbedingt mit den Personen zusammenhängen. Peter Sawicki war in der Situation, ein Institut sozusagen aus dem Boden stampfen zu müssen. Wenn man ein Institut mit gesetzlichem Auftrag aufbaut und diesem auch eine Position verschaffen muss, ist das eine andere und möglicherweise konfliktträchtigere Situation, als wenn man ein Institut schon auf dem Weg der Stabilisierung und der Etablierung im System in der Leitung übernimmt.

Das IQWiG soll unabhängige Gutachten erstellen. Wie sorgen Sie dafür, dass die Politik keinen Einfluss auf Ihr Institut und Ihre Mitarbeiter hat?

Jürgen Windeler: Es ist nicht so, dass ich dafür sorgen muss. Es gibt keine Versuche von Politikern, auf unsere Ergebnisse und auf unsere Arbeit Einfluss zu nehmen. Ich höre häufig, dass vermutet wird, dass wir täglich angerufen werden, von der Politik, von Pharmafirmen und von Ärzten, doch mal die Dinge so oder so zu machen. Ich muss einfach sagen, es ruft niemand an. Meine Vermutung ist, dass alle genau wissen, dass es nichts bringt hier anzurufen. Das ist auch ein Verdienst der Arbeit von Peter Sawicki, sehr klar gemacht zu haben, dass das Institut unabhängig agiert und agieren muss.

Es gibt die Stiftung für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Ist angedacht, eines Tages das IQWiG gänzlich über diese Stiftung zu finanzieren? Dann wäre ja die Unabhängigkeit wirklich da.

Jürgen Windeler: Die Stiftung ist die Trägerorganisation des Instituts. Sie hat ein Stiftungskapital, aus dem sie das IQWiG aber nicht finanzieren kann. Es ist aber relativ egal, ob sie jetzt die Stiftung mit ein paar Millionen ausstatten – das Geld müsste ja auch aus dem Topf, aus dem der Systemzuschlag kommt, kommen. So wie das IQWiG in der Finanzierung aufgestellt ist – ein anonymer, über alle verteilter Beitrag, der nicht von einer konkreten Seite kommt – ist das eine sehr gute Ausgangssituation, um die Unabhängigkeit sicherzustellen. Denn niemand hat unmittelbar Interesse daran diese Gelder zu verdoppeln oder zu halbieren, beziehungsweise für sein Geld etwas Bestimmtes einzufordern.

Der Etat Ihres Instituts – 2009 waren es um die 15 Millionen Euro – ist winzig im Vergleich zu dem eines Pharmakonzerns. Wie wollen Sie PR-mäßig gegen die Industrie bestehen?

Jürgen Windeler: In der Tat haben wir nur ein kleines Ressort, fünf Mitarbeiter, das sich mit Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt. Wir versuchen erst gar nicht in großartiges Marketing zu investieren, sondern bauen auf die Kraft guter Argumente. Das hat den Nachteil, dass das IQWiG nicht so bekannt ist, wie die großen Pharmafirmen, das ist ganz klar. Aber wir wollen das mit einem Etat, der von den gesetzlich Versicherten stammt, nicht beliebig ausweiten.

Wollen oder müssen Sie sich nicht gegen Pharmafirmen oder Vorwürfe wehren?

Jürgen Windeler: Wir haben im Moment eine Diskussion im Zusammenhang mit einer frühen Nutzenbewertung, wo Industrievertreter Behauptungen aufstellen, von denen sie wissen, dass sie falsch sind. Zu meinen Kindern könnte ich sagen ‚Du sollst doch nicht lügen‘, aber bei den Großen ist natürlich die Frage, wie man damit umgeht. Wir versuchen, eine einigermaßen gelassene Strategie zu fahren. Wenn der Bogen überspannt wird, äußern wir uns und stellen die Dinge richtig. Das IQWiG selber und speziell der Prozess mit der frühen Nutzenbewertung ist ja extrem transparent, so etwas Transparentes werden Sie im gesamten Gesundheitssystem nirgends finden.

Auf was spielen Sie an?

Jürgen Windeler: Es gibt ein Dossier zu Pirfenidon, einem Orphan-Drug, das jetzt in der Bewertung ist. Es gab mehrere Äußerungen von Firmenvertretern die schlicht nicht wahr sind. Jeder kann sich die Dokumente ansehen und sich ein Bild verschaffen. Firmenvertreter behaupten zum Beispiel immer wieder, das IQWiG habe eine inadäquate Vergleichstherapie festgelegt. Sie wissen jedoch ganz genau, dass nicht das IQWiG, sondern der G-BA diese Therapie festlegt.

Das IQWiG erstellt dann ein Gutachten über die Wirksamkeit einer Therapie oder eines Medikaments. Wie viele der IQWiG-Empfehlungen werden vom G-BA eins zu eins umgesetzt, wie viele gar nicht oder nur zum Teil?

Jürgen Windeler: Wenn ich alle Gutachten betrachte, die das IQWiG macht – wir reden jetzt nicht nur über die frühe Nutzenbewertung, denn darüber haben wir noch nicht ausreichend Erfahrung – folgt der G-BA in der großen Mehrzahl der Fälle den Empfehlungen unseres Instituts. Meistens mit Differenzierungen, weswegen es sehr schwer ist, darüber eine Statistik zu machen. Was die frühe Nutzenbewertung angeht, haben wir bisher erst zwei Beschlüsse, auch in denen ist der G-BA dem IQWiG im Grundsatz gefolgt, hat aber Differenzierungen vorgenommen. Zum Beispiel hat der G-BA bei Boceprevir [einem Wirkstoff gegen Hepatitis C; die Red.] die Untergruppierung in therapie-naive und Zirrhose-Patienten, die das IQWiG auf Grund der Zulassung vorgenommen hat, nicht übernommen.

Weshalb beauftragt der G-BA Sie ein Gutachten zu erstellen und hält sich dann nicht dran? Vertraut er Ihrer Expertise nicht?

Jürgen Windeler: Doch, natürlich tut er das. Der G-BA ist laut Gesetz verpflichtet, die Empfehlungen des IQWiG bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Der G-BA trifft aber eine versorgungspolitische Entscheidung, die wissenschaftlich begründet sein muss. Es kann also sein, dass er aus versorgungspolitischen Gründen, der Auffassung ist, dass er eine abweichende Entscheidung treffen muss, was das Belassen von Verfahren im System oder das Herausnehmen aus dem System angeht. Ich kenne keine Entscheidung oder keine Beratung des G-BA, wo nicht die Bewertungen des IQWiG – wenn das IQWiG beauftragt worden ist – eine sehr prominente und dominante Rolle gespielt haben.

Zum Beispiel Boceprevir: Birgit Fischer, die Haupfgeschäftsführerin des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa), hat dem IQWiG vorgeworfen es „missachte internationale Standards evidenzbasierter Medizin bei der Nutzenbewertung von Medikamenten“. Was sagen Sie dazu?

Jürgen Windeler: Ich habe das auch gelesen und gestehe, dass ich es nicht verstanden habe. Ich weiß nicht, auf was sich diese Äußerung von Frau Fischer konkret bezieht. Ich beziehe sie einmal auf eine Situation, die mit dem Surrogat-Parameter bei dieser Bewertung zusammen hängt: Überspitzt ausgedrückt ging es um die Frage: „Ist ein Medikament, das dazu führt, dass ein Virus nicht mehr nachweisbar ist, ein nützliches Medikament oder nicht?“ Das IQWiG hat gesagt, der Umstand, dass ein Virus nicht mehr nachweisbar ist, ist ein Surrogatkriterium dafür, dass die Erkrankung [Hep C; die Red.] nicht mehr da ist und nicht mehr zu Folgeschäden führen kann. Jetzt hat das IQWiG gesagt – und das wird permanent unterschlagen – wir betrachten das als ein valides Surrogat. Denn wir glauben, dass die nachhaltige Viruslastreduzierung bedeutet, dass die Erkrankung unter Kontrolle ist; in der Folge sollten also Erkrankungen wie Leberzirrhose oder Leberzellkarzinom nicht oder deutlich seltener auftreten. Das haben wir ausdrücklich so anerkannt. Doch wir müssen in der Bewertung nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) eben auch das Ausmaß des Zusatznutzens quantifizieren. Und dafür haben wir – leider! – keine ausreichenden Daten, um den Vorteil, den wir bei der Viruslast sehen, auf die Vermeidung von Krebs umzurechnen. Dafür hat man uns keine ausreichenden Informationen gegeben. Im Dossier stehen sie jedenfalls nicht.

Unterstellen Sie damit, dass Merck, Sharp & Dohme, das pharmazeutische Unternehmen, Informationen nicht bereit gestellt hat, also Studien zurückgehalten hat?

Jürgen Windeler: Der pharmazeutische Unternehmer ist gesetzlich verpflichtet, alle den Zusatznutzen betreffenden Studien zur Verfügung zu stellen, und das hat er in diesem Fall natürlich auch getan. Der Punkt, auf den ich gerade hingewiesen habe, sind Daten, die die Verbindung zwischen dem Surrogatkriterium und dem patientenrelevanten Endpunkt [Leberzirrhose, Leberzellkarzinom; die Red.] herstellen. Zur Herausgabe oder der Veröffentlichung dieser Studien ist der pharmazeutische Unternehmer nicht verpflichtet. Das sind unter Umständen auch Studien, die er gar nicht selber gemacht hat, sondern einfach Daten, die man in der wissenschaftlichen Literatur finden kann. Wir können in diesem Verfahren keine Recherche dazu machen, ob es eventuell in der Weltliteratur belastbare Daten gibt, um diesen Surrogatendpunkt zu quantifizieren. Deswegen sind wir an dieser Stelle darauf angewiesen, das zu bewerten und zu Grunde zu legen, was der pharmazeutische Unternehmer uns in seinem Dossier mitteilt.

Das heißt ja letztendlich, dass Sie sich nicht wirklich ein umfassendes Bild verschaffen können?

Jürgen Windeler: Richtig, das heißt unter Umständen, dass wir uns bei den Dossierbewertungen – wir müssen das immer sorgfältig trennen von den übrigen Nutzenbewertungen – kein so umfassendes Bild verschaffen können.

Sie bewerten einen möglichen Zusatznutzen von Medikamenten, die bereits zugelassen sind. Die von Ihren Mitarbeitern erstellten Gutachten sollen die Frage klären, ob ein Medikament nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) von den Gesetzlichen Kassen erstattet werden soll oder nicht.

Jürgen Windeler: Wir bewerten den Zusatznutzen nicht mit der Zielsetzung, ob etwas erstattet werden soll oder nicht. Zusatznutzen heißt, dass man prüfen soll, ob dieses Arzneimittel wirklich besser ist als andere. Insbesondere, aber nicht nur deswegen, um damit einen höheren Preis zu rechtfertigen.

… vom pharmazeutischen Unternehmen aus?

Jürgen Windeler: Vom System aus. Ja genau, in letzter Konsequenz vom pharmazeutischen Unternehmen aus.

Das System, wenn Sie damit das Gesundheitssystem meinen, müsste doch an einem möglichst niedrigen Preis interessiert sein?

Jürgen Windeler: Es gibt wechselseitige Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten. Die Unternehmen sagen, dass sie verantwortlich für die Gesundheit der Patienten sind. Das sehe ich nicht so. Sie sind aber natürlich im eigenen Interesse verantwortlich, dass das System nicht zusammenbricht. Genauso ist die andere Seite, die GKV, daran interessiert, die Preise nicht so hoch zu haben, wie die pharmazeutischen Unternehmen vielleicht wollen. Aber sie dürfen keine Dumpingpreise nehmen, weil sonst, überspitzt ausgedrückt, die pharmazeutischen Unternehmen nicht mehr forschen könnten. Für die Preisverhandlungen dienen die Zusatznutzenbewertungen des IQWiG, die deutlich machen, dass ein neues Arzneimittel nicht besser ist als das, was wir schon haben, oder aber in bestimmten Abstufungen besser ist.

Aber gerade am Beispiel Boceprevir konnten Sie den Zusatznutzen ja nicht quantifizieren.

Jürgen Windeler: Genau.

Da steckt doch irgendwo der Teufel drin.

Jürgen Windeler: Jein. Nicht quantifizierbar bedeutet ja, dass wir meinen, dass es einen Zusatznutzen gibt. Wir sind nur unsicher darüber, wie groß er ist. Das ist auch eine Verhandlungsposition. Mit dieser erhöhten Unsicherheit müssen die Verhandlungspartner umgehen. Der G-BA hat das Ausmaß im Übrigen genauso bewertet und entschieden. Insofern verstehe ich auch Schlagzeilen nicht, in denen steht, der G-BA weiche von der IQWiG-Bewertung ab. Er ist mit den ihm zustehenden Differenzierungen im Ergebnis unserer Bewertung gefolgt.


Interview: Valérie Labonté
Bilder: IQWiG


Dieses Interview erschien in Laborjournal 4/2012

 



Nutzenbewertung, Surrogat, Etat: Was macht das IQWiG eigentlich?

 

Das Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erstellt seit seiner Gründung im Jahr 2004 evidenzbasierte medizinische Gutachten im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) oder des Bundesgesundheitsministeriums (BGM); daneben bearbeitet es auch eigene Themen. Evidenzbasierte Medizin stützt sich auf objektiv gewonnene Belege und schließt für die Behandlung von Patienten immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein.

Die 74 wissenschaftlichen Mitarbeiter des IQWiG analysieren für ihre Nutzenbewertungen zu Medikamenten oder Therapien existierende wissenschaftliche Literatur und bereits abgeschlossene klinische Studien. Seitdem das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) vom Januar 2011 in Kraft ist, führt das IQWiG zusätzlich frühe Nutzenbewertungen durch, für die der Grad des Zusatznutzens eines neuen Medikaments gegenüber einer vom G-BA festgelegten Standardtherapie ermittelt wird.

Als Surrogat (genauer: Surrogatwert beziehungsweise -marker) bezeichnet man in klinischen Studien einen leicht zu messenden Wert, der als Diagnosekriterium ein Symptom oder eine Krankheit anzeigt.

Finanziert wird das IQWiG durch einen Systemzuschlag. Dieser wird auf alle Leistungen erhoben, die im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anfallen. Die Geldgeber des IQWiG sind also letztlich alle zahlenden Mitglieder der GKV.

Im laufenden Jahr beträgt der Etat des Instituts rund 17,5 Millionen Euro. Damit müssen die Gehälter der insgesamt 132 Mitarbeiter, die laufenden Betriebskosten sowie die Kosten für externe Sachverständige bezahlt werden. -vl-





Letzte Änderungen: 25.04.2012
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