Editorial

Vom Muttersöhnchen zum Massenmörder - Überlegungen zu einer fatalen Biographie

Der Arzt Sigmund Rascher hat als Leiter einer Forschungsstation im KZ Dachau Dutzende von Häftlingen in einer Unterdruckkammer qualvoll ersticken lassen. Andere ließ er in Eiswasser erfrieren, wieder andere verbluten.

(20. April 2009) Dem Mordseifrigen winken Reichtum, Patente, Fabriken, Habilitation und Lehrstuhl. Das klingt wie ein Schmierenroman und es ist auch einer - eine anrüchige Perle in der sonst auch nicht gerade duftenden Geschichte des Liebeslebens der deutschen Professoren - wobei Rascher es ja nicht einmal zum Professor geschafft hat.

Der Mann faszinierte mich. Ich wollte mehr über ihn wissen, ich suchte im bayerischen Landesarchiv, in der Bibliothek der Harvard Universität, im Bundesarchiv Koblenz, bei Raschers Verwandten, bei Leuten, die Rascher gekannt haben. Ich habe drei Aktenordner Informationen über Rascher gesammelt.

Das Ergebnis?

Raschers Leben eignet sich schlecht für Moralpredigten. Er hat zwar etwa hundert Leute zu Tode gefoltert aber seinen Häftlingsmitarbeitern war er ein loyaler Chef, im Privatleben hilfsbereit und ein guter Familienvater und Gatte. Rascher war auch kein überzeugter Nationalsozialist und kein Antisemit. Gut, Rascher war ein schlechter Wissenschaftler, er war ein Angeber, doch wäre Rascher 20 Jahre später geboren worden, oder hätte er sich im Sommer des Jahres 1936 einen Fuß verknackst und das Bett gehütet, er hätte sich wenig zuschulden kommen lassen.

Eben das ist das Interessante an Rascher:

Wie wird ein mehr oder weniger durchschnittlicher Mensch zum Massenmörder?

Kindheit

Sigmund Rascher wurde 1909 in München geboren. Der Vater, Hans Rascher, war Arzt, ein Liebhaber esoterischer Heilmethoden. Die Mutter Rosamunde hatte Sängerin werden wollen, führte aber den Haushalt. Das Paar hatte drei Kinder: Sigurd, Sigrid und Sigmund.

Hans Rascher gehörte zum engsten Kreis um den Anthroposophen Rudolf Steiner. Nach dem ersten Weltkrieg neigte Vater Rascher zudem den Nationalsozialisten zu; er wurde zum Verbindungsmann zwischen Anthroposophen und Nationalsozialisten. Auch Sigmunds Mutter war Anthroposophin. Bei Raschers wurde Hausmusik gespielt, die Mutter sang, Sigurd spielte Klarinette und Saxophon.

Sigmund Rascher wuchs unter dem Einfluss der Mutter auf. Im 1. Weltkrieg, 1914 war Sigmund 6 Jahre alt, stand der Vater als Sanitätsoffizier im Feld. Die Familie zog dann nach Stuttgart um, wo die Rascher Brüder die erste Waldorfschule besuchten, doch schon 1924 zog der Vater weiter nach Lugano, dann nach Hamburg, dann nach München. Die geschiedene Frau Rascher lebte mit den Kindern in Stuttgart. 1927 ließen sich die Raschers scheiden, wahrscheinlich wegen Hans Raschers Vorliebe für jüngere Frauen. Hanns Raschers NS Überzeugungen dürften also kaum auf seine Söhne eingewirkt haben. Dies um so weniger als Sigmund sich später schlecht mit seinem Vater verstand.

Der große Meister

Sigmunds Weltanschauung scheint ein gewisser Ehrenfried Pfeiffer geprägt zu haben. Ebenfalls in München geboren, war Pfeiffer zehn Jahre älter als Sigmund und wie Sigmunds Vater ein Vertrauter von Rudolf Steiner. Pfeiffer gilt als Apostel der biodynamischen Landwirtschaft und als Entwickler eines wundersamen Kristalltests. Er mischte einen Tropfen Blut oder Urin mit einer Kupferchloridlösung und ließ die Mischung auf Glasplatten kristallisieren. Aus den Kristallformen glaubte Pfeiffer ablesen zu können, ob eine Schwangerschaft, Krebs oder Tuberkulose vorlag.

Studium

In der Schule hat Sigmund nicht geglänzt. Erst 1930, mit 21 Jahren, macht er in Konstanz das Abitur mit gut. Im gleichen Jahr beginnt er das Medizinstudium in Freiburg. Seinen Unterhalt verdient er sich mit Nachhilfegeben und Koffertragen, denn der Vater gibt kein Geld und die Mutter hat keins. Sigmund zeigt zum ersten Mal Ehrgeiz.

Warum erst jetzt?

Will er es dem Vater zeigen?

Studiert er deswegen Medizin?

Nein. Es sind die Erfolge des Bruders Sigurd, die Sigmund anspornen. Sigurd Rascher entwickelte sich anfangs der 30er Jahre zum Meister des klassischen Saxophons. Stichworte: Berliner Philharmonie, Konservatorium in Kopenhagen, Hindemith komponierte für Sigurd Rascher.

Der kleine Bruder Sigmund strebt jedoch nach Ruhm in der Forschung. Er studiert nach dem Physikum in Basel weiter und wird Gehilfe Pfeiffers. Der weiht am Goetheanum Sigmund in seine Kristalldiagnosen ein.

1933, noch in der Schweiz, tritt Sigmund der NSDAP bei. Wahrscheinlich aus Karrieregründen. Engagement für den NS-Staat zeigt er nicht. So drückt er sich um den deutschen Arbeitsdienst.

Forschen

Im Oktober 1934 zieht Sigmund nach München. Er will bei dem Pädiater Josef Trumpp promovieren. Dessen größte Leistung sind die Abbildungen zu einem Atlas der Kinderkrankheiten. Er ist Anhänger von Bircher Benner, dem Müsli-Erfinder, und von Kristall-Pfeiffer. Sigmund wandert also von einem Pseudowissenschaftler zum nächsten.

Thema der Doktorarbeit ist die Diagnose der Schwangerschaft mit Pfeiffers Kristalltest. Rascher soll und will ihr akademische Anerkennung verschaffen.

Er arbeitet daran bis ins Jahr 1936 im Pathologischen Institut der II. Medizinischen Klinik in der Ziemssenstraße. Nebenher dient er als unbezahlter Assistent auf der Tuberkulosestation. Rascher lebt von 1200 RM, die vermutlich von der Anthroposophischen Gesellschaft stammen. Er kauft sich ein Motorrad.

Sigmund ist beliebt bei den Professoren Alfred Schittenhelm und Max Borst. Unter den Assistenten dagegen gilt der nervöse Doktorand als Zuträger und Vielredner.

1936 legt Sigmund das medizinische Staatsexamen ab. Im gleichen Jahr erscheint seine erste Arbeit in der Münchner Medizinischen Wochenschrift, damals einer NS-nahen Zeitschrift. In dem Artikel behauptet er, dass Pfeiffers Kristalltest tatsächlich zwischen dem Urin von Schwangeren und Nichtschwangeren unterscheiden könne.

1936 ist Sigmunds Schicksalsjahr: Er tritt in die SA ein, er wechselt er zur Chirurgie des Schwabinger Krankenhauses, wieder als unbezahlter Assistent, als Depp vom Dienst. 1936 sind die 1200 RM alle. Sigmund fehlt Benzin für sein Motorrad. Er übernimmt Vertretungen für praktische Ärzte.

Bei solch einer Vertretung lernt er die Frau seines Lebens kennen.

Die große Liebe

Diese Frau ist Karoline Diehl, Spitzname Nini. Sie wohnt in der Trogerstraße 56, beim Klinikum rechts der Isar. Nini gibt vor, 1903 geboren zu sein, in Wirklichkeit ist ihr Geburtsjahr 1893. Sie ist also sechzehn Jahre älter als Sigmund. Nini ist Konzertsängerin. Sie tritt in Kirchen auf und unterrichtet katholische Würdenträger in Gesangstechnik. 1919 hatte sie den Theaterregisseur Oskar Diehl geheiratet, einen Kriegsversehrten mit Knochentuberkulose.

Warum heiratet eine junge Frau einen Mann mit einer schmerzhaften zehrenden Krankheit?

Wahrscheinlich aus finanziellen Gründen: Diehl bekam eine Versehrtenrente, die nach seinem Tod an die Witwe ging. Nini war 1919 wohl in finanzieller Not gewesen und hatte mit dem baldigen Ableben Diehls gerechnet. Der aber starb erst 1929.

10 Jahre lang musste Nini also ein jammerndes Knochengestell pflegen. Dies geschah einer Frau, die Sängerin geworden war, weil sie nach Glanz und Liebe gierte. Mit Liebe konnte Diehl nicht dienen und die Verhältnisse, die Nini neben ihm hatte, scheinen unbefriedigend und wenig nachhaltig gewesen zu sein.

Als Diehl endlich starb, wurde Ninis Mutter bettlägerig. Im Endergebnis hat Nini von 1919 bis 1936 Kranke gepflegt. Nur die Hilfe von einem Pflegekind ihrer Mutter, ermöglichte es Nini gelegentlich als Sängerin aufzutreten.

1936 war Nini 43 Jahre alt und ihr Leben verpfuscht: keine Karriere, keine Kinder, kein Mann und keine Aussichten. Torschlusspanik und Angst vor dem Alter trieben die Frau um.

Wenn ich gesagt habe, dass Ninis Männerbekanntschaften wenig nachhaltig waren, so gibt es eine Ausnahme. In den frühen 20er Jahren soll Nini, so will es das Gerücht, eine Liebschaft mit Heinrich Himmler gehabt haben. Möglicherweise hat sie ihm auch nur Unterschlupf gewährt; dafür spricht, dass Nini und Himmler per Sie waren. Wie auch immer: Nini hatte eine enge direkte Verbindung zum Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei. Diese Verbindung zu festigen, war Nini ein Anliegen. So spionierte sie für den Sicherheitsdient der SS, den katholischen Klerus aus: den Mailänder Kardinal Schuster, den päbstlichen Kurier Beat Reiser. Beide hatte sie über die Kirchenmusik kennen gelernt.

Diese vom Leben enttäuschte Frau trifft nun auf den geltungsbedürftigen Sigmund Rascher, der vom Schicksal auch nicht verwöhnt worden ist. Sigmunds Beruf, seine geistige Regsamkeit, seine Angeberei, seine Liebe zur Musik beeindrucken Nini, die im übrigen auch keine große Wahl gehabt haben dürfte. Im Sommer 1936 machen die beiden einen Motorradausflug zum Chiemsee. Dabei kommt es zum Geschlechtsverkehr. Ein paar Monate später stirbt Ninis Mutter. Sigmund zieht zu Nini in die Trogerstraße. Zwischen den beiden entwickelt sich die Große Liebe. Von der Frau komm ich nicht mehr los, sagt Sigmund. Dabei könnte Nini vom Alter her seine Mutter sein und vielleicht ist sie ihm das auch: Sie unterstützt Sigmund mit aller Kraft und allen Mitteln. Nini hatte auch den Wunschberuf von Sigmunds Mutter. Nini liebt Sigmund wirklich: Nach ihrem Sturz im April 1944 wird sie Gott und die Welt und sogar Himmler beschuldigen. Nur Sigmund hält sie die Treue bis in den Tod.

Das Forschungsstipendium

Zurück ins Jahr 1936. Sigmund, jetzt Doktor, hat seine Forschungsambitionen nicht aufgegeben. Sein Mentor Trumpp ermutigt ihn, bei der DFG einen Antrag auf ein Forschungsstipendium zu stellen. Den Antrag schickt Sigmund am 11. Januar 1937 ab. Er besteht aus drei DINA4 Seiten.

Sigmund will prüfen, ob sich der Pfeiffersche Kristalltest zur Krebsdiagnose eignet.

Gutachter des Antrags ist der Pathologe Carl Hinsberg. Der arbeitet ebenfalls an einer Krebsdiagnose, an einer, die auf den Abderhaldschen Abwehrfermenten basiert. Dennoch kommt Hinsberg Raschers Vorhaben so dubios vor, dass er seinen Assistenten anweist, Sigmunds Behauptungen zu prüfen. Der Assistent stellt fest, dass CuCl2 in Gegenwart von Adrenalin tatsächlich anders kristallisiert als in reinem Wasser. Daraufhin befürwortet Hinsberg Raschers Antrag. Genau vier Wochen nach Antragsstellung erhält Sigmund die Nachricht, sein Forschungsstipendium sei genehmigt. Ab dem 1. April (nomen est omen) erhalte er 200 RM monatlich für ein Jahr.

Sigmund legt los. Ende des Jahres schon berichten er und Trumpp der DFG Phantastisches: Sie wollen mit dem Kristalltest nicht nur zuverlässig erkennen können, ob Krebs vorliegt oder nicht, sondern auch, ob Metastasen vorliegen und wo sie sitzen!

Das ist selbst Hinsberg zu viel. Er empfiehlt der DFG, die Behauptungen zu prüfen.

Rascher und Trumpp sind zu einer Prüfung bereit jedenfalls theoretisch. Praktisch erfinden sie eine Ausrede nach der anderen und Nini aktiviert die Reichsleitung SS zugunsten von Sigmund. Die DFG fürchtet Verwicklungen mit der SS, lässt die Sache schleifen und verlängert sogar Sigmunds Forschungsstipendium bis zum Dezember 1938. In diesem Monat reichen Trumpp und Sigmund ihren Abschlussbericht ein: Die märchenhaften Ergebnisse seien wahr. Sigmund bittet wiederum um Verlängerung des Stipendiums.

Jetzt stellt sich die DFG auf die Hinterbeine. Sie verlangt kategorisch eine Prüfung durch Hinsberg. Aber wieder verläuft die Sache im Sand. Das Stipendium allerdings wird nicht verlängert. Ab dem 1.1.1939 ist Sigmund ohne Einkünfte. Nur die Stelle als unbezahlter Assistent hat er noch. Dies obwohl er seine sensationellen Ergebnisse schon 1938 in einem zweiten Artikel in der Münchner Medizinischen Wochenschrift veröffentlicht hatte und im Frühjahr 1939 ein dritter Artikel erscheint. Anscheinend glaubt ihm niemand. Zu recht. Sigmunds Ergebnisse konnten nie reproduziert werden, nicht einmal von den Anthroposophen. Weil er die Experimente verblindet haben will, hat er die Daten wohl gefälscht.

Warum?

Versetzen Sie sich in Sigmunds Lage: Der Bruder macht Karriere als Saxophonist. Der Vater hat eine erfolgreiche Praxis. Nur der arme kleine Sigmund hat nichts: kein Geld, keinen richtigen Job, keine Aussichten. Dabei ist er jetzt schon 30 Jahre alt. Da muss wenigstens wissenschaftlicher Ruhm her - egal wie!

Die Wende

Etwas hat Sigmund doch: Seine Nini! Die wiederum hat ihre Verbindungen zum Reichsführer SS. Im April 1939 stellt sie ihren Sigmund dem Heinrich Himmler vor.

Himmler und Sigmund haben einiges gemeinsam. Beide neigen zu esoterischen Theorien, stehen unterm Pantoffel, heiraten ältere Frauen. Sigmund scheint die SS allerdings weder vor noch nach der Unterredung geliebt zu haben. So war er erst in äußerster Not zu einer Vorstellung bei Himmler bereit. Bei der Musterung hatte er sich zur Luftwaffe gemeldet und er schafft sich nie eine SS-Uniform an.

Die Unterredung zwischen den beiden verläuft gut. Sigmund soll prüfen, ob die Verwendung von Kunstdünger Einfluss auf die Krebshäufigkeit habe. Als Versuchspersonen sollen KZ-Häftlinge dienen. Im Mai 1939 wird Sigmund in die SS-eigene Forschungsorganisation Ahnenerbe aufgenommen. Er erhält 650 RM Forschungsbeihilfe monatlich und kann sich eine Assistentin leisten (Monatsgehalt 150 RM). Es geht aufwärts!

Im Juni 1939 erhält Sigmund einen Ausweis, der ihn zum Betreten des KL Dachau berechtigt.

Im Oktober 1939 tritt er als Untersturmführer der SS bei. Mit der Forschung aber wird es nichts. Im Mai 1939 ist Rascher nämlich als Stabsarzt zur Luftwaffe eingezogen worden und wird in Norwegen und Nordafrika eingesetzt. Das Labor in der Innenstadt wird ihm gekündigt. Er weicht in ein Ersatzlabor im Keller des Schwabinger Krankenhauses aus.

Es wird Winter, es wird Frühjahr 1941. Sigmunds Assistentin kristallisiert im Schwabinger Kellerlabor CuCl2, doch kommt nichts dabei heraus. Zwei Jahre sind seit dem Eintritt ins Ahnenerbe vergangen und Sigmund hat wissenschaftlich nichts geleistet. Sigmund fürchtet, dass man ihn aus dem Ahnenerbe wirft. Er fürchtet, die Gunst Himmlers zu verlieren. Seine Forscherkarriere wäre dann perdü. Er wäre blamiert: vor Nini, vor seinem Bruder, vor seinem gehassten Vater und vor sich selbst.

Es muss was geschehen.

Aber was?

Die Idee kommt Rascher auf einem Kurs des Luftgaukommandos VII in München. Dort sprechen die Referenten über die menschliche Physiologie in großen Höhen. Große Höhe heißt niedriger Luftdruck. Wie wirkt der auf Piloten die in großer Höhe aussteigen müssen? Diese Frage kann man in Unterdruckkammern klären, sagen die Referenten. Darin lässt sich der niedrige Luftdruck nachstellen. Die Referenten weisen auch darauf hin, dass es an Freiwilligen fehlt. Die Frage war akut, weil die deutsche Flugzeugindustrie Jäger mit hoher Steigfähigkeit entwickelte, um die englischen Spitfire zu bekämpfen.

Warum nicht Häftlinge in die Unterdruckkammern stecken?, denkt Sigmund. Er schlägt das Himmler in einem Brief vom 15. Mai 1941 vor. Im Juli 1941 genehmigt Himmler den Vorschlag. Wahrscheinlich auf Drängen Ninis verspricht er, dass nur Rascher derartige Versuche durchführen darf er gibt Rascher also das Monopol für luftfahrtmedizinische Menschenversuche.

Himmlers Stab spricht das Vorhaben mit der Luftwaffe ab.

Niemand erhebt Einspruch: Weder der Sanitätsinspekteur der Luftwaffe Erich Hippke, noch der Reichsarzt SS Grawitz. Im Gegenteil, Grawitz und Hippke versuchen Rascher und sein Menschenversuchsmonopol in den jeweils eigenen Apparat zu locken. Doch Rascher untersteht Himmler direkt und denkt nicht daran, sich an zweitrangige Figuren zu hängen. Wie schon an der Universität hält Rascher zur obersten Instanz. Er mag ein miserabler Forscher sein, aber er hat Gespür für Politik.

Auch von akademischer Seite kommen keine Proteste gegen Raschers Experimente: Weder vom Leiter des Münchner Instituts für Luftfahrtmedizin, Georg Weltz, dem Rascher zugeordnet wird, noch vom Direktor des Berliner fliegermedizinischen Instituts Siegfried Ruff oder dessen Assistenten Hans Romberg. Letzterer soll mit Rascher zusammenarbeiten. Auch im Oktober 1942, als Rascher auf einem medizinischen Kongress über seine tödlichen Versuche berichtet, gibt es keine Proteste. Hans Diedrich Cremer, der spätere Lehrstuhl-inhaber für Ernährungswissenschaft in Gießen, schlägt Rascher sogar eine Zusammenarbeit vor. (siehe Artikel auf dieser Seite Was geschah in Sudelfeld?)

Widerstand gegen Raschers Versuche kommt nur aus der SS. Bei der SS-Mannschaft des KZ Dachau gilt er als Zuträger und Günstling Himmlers. Sie zettelt Intrigen gegen ihn an. 1944 wird sich der Dachauer Lagerkommandant beim Münchner Polizeipräsidenten von Eberstein über Rascher beschweren: Der mache verabscheuungswürdige Experimente an Menschen. Von Eberstein, General der Waffen-SS, fordert daraufhin bei Himmler eine gerichtliche Untersuchung. Himmler reagiert ungnädig: Eberstein verstünde davon nichts.

Die Unterdruckversuche

Die Versuche beginnen wegen technischer und personeller Probleme erst im Februar 1942. Eine Person wird in eine luftdichte Kammer gesteckt, die Luft herausgepumpt und physiologische Reaktionen, wie die Herzfrequenz gemessen. Die Versuchspersonen sind Häftlinge. Teils meldeten sie sich freiwillig, weil ihnen die Entlassung versprochen wird, zum größeren Teil werden sie gezwungen. Viele Versuche führen Rascher und Romberg gemeinsam durch.

Rascher bringt Dutzende von Häftlingen zu Tode, die meisten in Abwesenheit Rombergs. In terminalen Versuchen plant Rascher den Tod der Versuchsperson sogar ein. Darüber berichtet er geheim und direkt an Himmler - und der heißt das gut. Gefordert aber hat Himmler das Töten nicht. Es bringt wissenschaftlich auch wenig, zumindest kommt der von Rascher, Romberg und Ruff unterzeichnete offizielle Abschlussbericht ohne Mordergebnisse aus.

Rascher berichtet auch seiner Frau von seinen tödlichen Experimenten. Sie schlägt vor die Experimente zu filmen. Sie denunziert Romberg, der nie tödliche Experimente durchführt, bei Himmler wegen Humanitätsduselei. Nini glaubt, dass die Versuche die Karriere ihres Gatten fördern. In der Tat ist Rascher im Februar 1942 Abteilungsleiter im Ahnenerbe geworden. Himmler unterstützt auch Raschers diverse Habilitationsversuche. Romberg allerdings wird auch Abteilungsleiter.

Zwei Ärzte arbeiten also miteinander. Der eine lässt die Versuchspersonen überleben, der andere bringt sie um.

Warum tut Rascher das, wo es ihn doch auch nicht weiter bringt wie seinen Kollegen?

Hat Rascher Freude am Töten?

Als sein Onkel durch einen Zufall von den Menschenversuchen erfährt und ihm Vorwürfe macht, erleidet Rascher einen Nervenzusammenbruch. In seinem Viertel behandelt er Patienten umsonst. Unter seinen Mitarbeitern sind zwei jüdische Häftlinge, für die er sich einsetzt. Meine Unterlagen weisen bei Rascher nicht auf pathologische Züge hin. Er war weder ein Haarmann noch ein Hannibal Lector.

Warum also tötet Rascher?

Aus zwei Gründen:

Zum Ersten. Rascher weiß: Sein Alleinstellungsmerkmal ist der tödliche Menschenversuch. Das Monopol darauf macht ihn wichtig. Da Rascher keine eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse vorweisen kann, auch keine wissenschaftlichen Ideen hat, verläuft sein Weg zum Lehrstuhl nur über dieses Monopol. Dass dieser Weg mit Leichen gepflastert ist, ist peinlich aber unvermeidlich.

Zum Zweiten. Rascher muss seinen Günstlingsstatus bei Himmler erhalten.

Anders als bei Romberg, der Rückhalt bei der Luftwaffe und im wissenschaftlichen Establishment hat, hängt Raschers Karriere allein von Himmler ab. Verliert er dessen Gunst wird er zurückgeworfen auf die alte Existenz. Wieder wäre er ein Nichts, ein Niemand, ein komischer Vogel. Um seinen Günstlingsstatus zu erhalten, muss sich Rascher vor Himmler auszeichnen, muss im Vergleich zu Romberg hervorstechen. Wissenschaftlich kann er Romberg nicht übertrumpfen, wohl aber in Skrupellosigkeit.

Sigmund Rascher stand vor der Wahl: Entweder stirbt die Versuchsperson oder die Karriere.

Er hat sich für die Karriere entschieden.

Die hätte auch beinahe geklappt. 1944 wurde Raschers Habilitation an der Reichsuniversität Straßburg wohlwollend geprüft, Industrieanlagen zur Produktion von Häftlingserfindungen waren im Bau. Doch kurz vor der Erfüllung seiner Sehnsüchte, im April 1944, stolpert Rascher über eine Verfehlung der Geliebten. Sie hatte Schwangerschaften vorgetäuscht und ihm vier Kinder untergeschoben. Eine Untersuchung durch die Münchner Kriminalpolizei deckt einen Hexenkessel von Mord, Intrigen, Erpressung, Bestechung, Vorteilsnahme, von Lügen und falschen Anschuldigungen auf (siehe: der Untergang des Hauses Rascher, Lj-Verlag Freiburg).

Die Geliebte endet im KZ Ravensbrück am Galgen, Rascher wird im KZ Dachau von der SS erschossen.



Hubert Rehm



Letzte Änderungen: 30.04.2009