Editorial

Wunderheilung im Intercity nach Karlsruhe

Neulich, im Schnellzug von Frankfurt nach Karlsruhe: Ein Laborjournal-Redakteur wird Zeuge eines Wunders: Die Tumore zweier Krebspatientinnen verschwinden vor seinen Augen. Spurlos. Eine wahre Geschichte.

(31.07.2006) Reisen bildet ja bekanntermaßen. Oder, um mit Oscar Wilde zu sprechen: Reisen veredelt den Geist und räumt mit allen unseren Vorurteilen auf. Recht hatte er. Setzen wir uns also in den Zug. Was man da nicht alles erleben kann. Etwa braungebrannte Mittsechziger, die am Bahnsteig sportlich-flott an der Warteschlange vorbei in den Waggon drängen. Toll, diese aktiven Senioren von heute! Oder schick-gewandete Business-Typen, die mitten in der Hauptverkehrszeit aus Rollkoffern erbaute Mauern um ihr privates Vierplätzeabteil herum errichten (Lieblingssatz: "Alles besetzt!").

Neulich tat auch ein Laborjournal-Redakteur eine Reise. Es sei nie verkehrt, seinen Geist zu veredlen, dachte er. Es war Mittwochabend und die Reise führte im Intercity von Nürnberg über Anschluss in Karlsruhe nach Freiburg. Was der Redakteur auf dieser Fahrt erlebte, hat nicht nur seinen Geist veredelt, sondern auch mit so manchem seiner Vorurteile aufgeräumt. Beispielsweise mit dem, dass es keine Wunder mehr gäbe. Im Gegenteil, es gibt sie noch, und manchmal passieren sie justament in einem Intercity-Waggon der Deutschen Bahn und in Anwesenheit eines LJ-Redakteurs.

Im Abendzug Richtung Karlsruhe...

Das Ganze ereignete sich wie folgt (aus Gründen des Spannungsaufbaus wechselt die Geschichte nun ins Präsens): Mitte 2006, irgendwo im Süden der Republik. Ein weißer Zug mit rotem Seitenstreifen saust mit knapp 180 km/h gen Karlsruhe. Aalen wurde vor wenigen Minuten verlassen, als nächsten Halt kündigt eine kratzige Lautsprecherstimme Schwäbisch Gmünd an. Müde kaut der Redakteur an seinem Käsebrot und blättert in einer zerfledderten, vom Vorgänger zurückgelassenen Tageszeitung. Da fällt sein Blick auf den Mitreisenden, der ihm zwei Plätze weiter den Rücken zuwendet.

Genauer gesagt fällt sein Blick auf den Bildschirm des tragbaren Computers, dessen Tastatur der Waggonnachbar herzhaft bearbeitet. Kla-klapp-kla-klapp-klapp. Eine Powerpoint-Präsentation leuchtet darauf in typischem microsoft-blau. Wer mag das sein? Ein nervöser Postdok, der seinem Seminarposter noch den letzten Schliff verleiht? Ein Medizin-Professor auf dem Weg zum Kongressvortrag? Kla-klapp. Klapp-klapp-klapp.

Sie denken sich nun vermutlich folgendes: Dieser Redakteur soll seine Augen gefälligst in die geschnorrte Zeitung, aber doch nicht in Dinge stecken, die ihn nichts angehen. Damit haben sie recht. Leider ist es aber so: In einem Zugabteil hat eine Schriftgröße von schätzungsweise 58 auf dem 15-Zoll-Bildschirm eines Laptops nahezu hypnotische Wirkung auf sich abends langweilende Mitreisende. Man KANN gar nicht weggucken, selbst wenn man möchte. Probieren Sie es bei Ihrer nächsten Zugfahrt einfach aus!

...ist ein Wissenschaftler noch fleißig am Werk

Der Redakteur glotzt also, einer müden Kuh gleich, auf den Computerbildschirm, der etwa zwei Meter schräg vor ihm leuchtet. "Uterine Artery Embolization (UAE)" steht da in dicken weißen Lettern auf hellblauem Untergrund. Und: "Effect on bulk related Symptoms". Der Redakteur versteht kein Wort.

Schwäbisch Gmünd drei Minuten voraus. 405.000 Kilogramm Stahl und Plastik werden gewaltsam verzögert und beginnen an den Schienen zu zerren. Der Redakteur in Wagen 22 glotzt auf Riesenbuchstaben in Arial. "Wir erreichen demnächst Schwäbisch Gmünd", krächzt eine Stimme. Der Redakteur versteht nur Bahnhof. Das Tastaturklappern ist verstummt. Der unbekannte Powerpoint-Nutzer scheint vor seinem Bildschirm zu meditieren.

Uterine Artery Embolization? Bulk related Symptoms? Der Redakteur ist kein Mediziner. Am nächsten Tag wird er sich an seinen Computer setzen und versuchen herauszufinden, was das ist: UAE. Er findet folgendes: Die Embolisation der Arteria uterina (UAE) ist eine minimal-invasive, komplikationsarme Behandlungsmethode von Uterusmyomen. Bisher sind nur wenige schwere Komplikationen bekannt worden. Auf deutsch: Um Uterusmyome zu bekämpfen, verschließt man in bestimmten Fällen die zuführende Arterie künstlich.

Was aber sind Uterusmyome? In der Fachliteratur heisst es: Uterusmyome sind die häufigsten Geschwulste in der Gebärmutter. Fast ein Viertel aller Frauen über 35 lebt mit einem solchen Tumor. Die meisten von ihnen merken es nicht einmal, denn klinische Symptome sind selten. Allerdings klagen viele Myomträgerinnen über diffuse Schmerzen im Unterleib, über Blasenbeschwerden und Harnstau oder sie leiden an Anämie.

Der Redakteur erfährt noch mehr: In manchen Fällen erreichten diese Myome Basketballgröße. Sie füllten den Bauchraum dann fast vollständig aus. Die meisten Myome seien jedoch "nur" unangenehm und in lediglich einem von 200 Fällen lebensgefährlich. Klassische Behandlungsmethoden seien erstens Operation, zweitens die Hormontherapie mit Antiöstrogenen. Oder drittens die Uterus-Arterien-Embolisation (UAE).

Krebsgeschwüre heilen...

Der Zug erreicht Schwäbisch Gmünd, und unser unbekannter Uterusmyom-Experte erwacht plötzlich wieder zum Leben. In schneller Folge wechseln Powerpoint-Ansichten, schließlich stoppt er beim gleichen Dia, welches änfänglich die Neugier des Redakteurs erregt hatte: Effect on bulk related Symptoms. Darunter eine Tabelle. In der steht:

Symptoms...

(a) Stopped completely 15 (39 %) (b) Greatly improved 18 (46 %) (c) Moderatly improved 4 (10 %) (d) No change 2 ( 5 %)


Der Unbekannte überlegt lange und regungslos, drei Minuten, vier Minuten. Plötzlich scheint er einen Entschluss gefasst zu haben. Er führt den Mauszeiger in die erste Zeile, markiert die "15", und - hoppla! - steht in dieser plötzlich die Zahl "17". Gleich darauf schrumpft die "18" in Zeile zwei auf "16". Die in Klammern stehenden Prozentangaben passen sich automatisch an. Während seiner Änderungen blickt der Unbekannte kein einziges Mal in seine Unterlagen.

Als nächstes nimmt er sich Zeile drei vor. Aus "4" wird - schwupps! - "3", die eben erst in "16" geänderte "18" erhöht er auf "17". Auf dem Bildschirm steht nun:

...manchmal wie von selbst

Symptoms...

(a) Stopped completely 17 (44 %) (b) Greatly improved 17 (44 %) (c) Moderatly improved 3 ( 8 %) (d) No change 2 ( 5 %)


Regungslos betrachtet der Unbekannte den Bildschirm. Dann klappt den Laptopdeckel nach unten und geht, versonnen lächelnd, aufs Klo. Kurz vor Stuttgart packt er zusammen, holt seine Jacke vom Haken und steigt am Hauptbahnhof aus. Der LJ-Redakteur hat ihn nie mehr getroffen.

Ja, deutsche Wissenschaftler tun wahre Wunderdinge und manchmal tun sie diese sogar in den Fernzügen der Deutschen Bahn. Dort erlösen sie Krebskranke von ihren Myomen und heilen schmerzhafte Krankheiten in Rekordzeit.

Wer war dieser Unbekannte, der im Intercity von Nürnberg nach Karlsruhe innerhalb weniger Minuten das Wachstum zweier Uterusmyome komplett gestoppt und den Heilungsprozess einer weiteren Kranken stark verbessert hat? Wann und wo hat er seine unglaublichen Erkenntnisse veröffentlicht? Trotz intensiver Recherche konnte der LJ-Redakteur bis heute nichts über diese vermutlich brandneue und wirklich bahnbrechende Arterien-Embolisationsmethode in Erfahrung bringen. Ein Jammer!

Winfried Köppelle



Letzte Änderungen: 31.07.2006