Editorial

Alle mehr arbeiten

Ein Kommentar von Siegfried Bär im aktuellen Laborjournal

Hier eine Episode, die sich kürzlich an einer bayerischen Universität abspielte: Ein riesiger Hörsaal. Molekularbiologie für Mediziner ist angesagt. Es weihnachtet sehr und statt der üblichen 300 sind nur 30-40 Medizinstudenten erschienen. Professor Appelböck mustert sie und hat Mühe, seine Rührung zu verbergen. Die glasigen Augen, die ihm entgegenstarren, erinnern ihn an die Bewohner der saftigen Weiden seiner Allgäuer Heimat.

Ist das wirklich nicht wichtig?

Wie viele Zyniker verbirgt er unter einer harten Schale einen weichen Kern. Deswegen und weil Appelböck weiß, dass das Interesse der Mediziner a.) eh nicht sonderlich groß ist und b.) vor den Weihnachtsferien präzipital nachlässt, hatte er sich ja auch entschlossen, seiner Hörerschaft heute nicht das Heu des Lehrplans in die Krippe zu werfen und die Sequenzierung nach Sanger wiederzukäuen. Heute will er sie über den Krippenrand schauen lassen. Er will zeigen, dass die Molekularbiologie Auswirkungen auf Disziplinen hat, die sich das nie hätten träumen lassen. Appelböck will das Nature Paper "Language-tree divergence times support the Anatolian theory of Indo-European origin" vorstellen. Darin werden Methoden der evolutionären Biologie auf linguistische Daten angewendet. Appelböck hatte sich deswegen tagelang mit Populationsgenetik und Linguistik beschäftigt. Was er anfängt, macht er gründlich.

"In der letzten Vorlesung des Semesters wollen wir uns mal mit Dingen beschäftigen, die nicht Buchstabe für Buchstabe im Gegenstandskatalog stehen", beginnt Appelböck.

Sofort reckt eine Studentin den Finger. "Ist das für die Klausur wichtig?", brüllt sie ins Auditorium.

"Nein, das ist für die Klausur nicht wichtig!", antwortet Appelböck und will anheben mit dem Vergleich der genetischen Polymorphismen der europäischen Bevölkerung und Wortähnlichkeiten wie Ox, Ochs, Goose, Gans etc.

Doch die Studentin traut der Sache nicht. "Ist das für die Klausur wirklich nicht wichtig?"

"Nein!!"

Die Studentin beginnt ihre Sachen zusammenzupacken. In das Schweigen hinein sagt sie: "Wenn das für die Klausur nicht wichtig ist, dann muss ich gehen. Ich muss nämlich noch Weihnachtsgeschenke kaufen."

"Das könnte ich nicht verantworten, wenn Ihre Eltern dieses Jahr ohne Geschenke blieben", antwortet Appelböck und seine Brillengläser blitzen.

Die Studentin zwängt sich durch die Klappstuhlreihen. Am Ende angelangt, schaut sie zurück. "Also was Sie da erzählen, das brauch ich nicht für die Klausur?"

Professor Appelböck schüttelt den Kopf und die Studentin beginnt die Treppen zur Hörsaaltür hochzusteigen. Appelböcks Blick folgt ihr. Gerade als sie die letzte Stufe erreicht hat, öffnet er den Mund.

"Also nochmal. Ich verspreche Ihnen, was ich jetzt erzähle, kommt in keiner Klausur vor. Aber es ist natürlich möglich, dass ich mal in einer mündlichen Prüfung danach frage."

Der letzte Satz erreicht die Studentin an der Hörsaaltür. Sie erstarrt. Dann macht sie kehrt, schleicht die Treppe wieder hinunter und schreibt bis zum Ende der Vorlesung fleißig mit.

Ich weiß nicht, ob diese Studentin die Tochter von Goppel war (hat er überhaupt eine?), aber beide scheinen mir ein ähnlich falsches Verständnis von Sinn und Aufgabe der Universität zu haben. Ist die Universität eine Paukanstalt? Sind die Studenten Eimer, in die möglichst schnell eine möglichst definierte Menge Wissen eingegossen werden muss? Und die Professoren die Wasserträger?

Nein, Herr Goppel, die Professoren müssen nicht mehr arbeiten, sie müssen anderes arbeiten und die Studenten müssen anders lernen.

So sollte nach dem Abitur mit der üblichen Paukerei Schluss sein. Wozu Vorlesungen, die noch aus der Büchernot des Mittelalters herrühren? Heute gibt es genügend Bücher. Die Studenten sollen daraus lernen und die Professoren sich auf Prüfungen beschränken. Wenn dann noch die überbordende Bürokratie auf ein Minimum reduziert würde, hätten sie Zeit, sich um das zu kümmern, was eine Universität ausmachen sollte: Forschung und die Lehre zur Forschung. Letzteres meint beizubringen, wie man forscht, wie man gesicherte und neue Erkenntnisse gewinnt. Den Krebszyklus dagegen können die Biologen im Stryer nachlesen und die Mediziner in Biochemie-light.

Zugegeben, das wird weder in Harvard noch in Yale so gemacht. Aber sind die Ami-Universitäten wirklich der Weisheit letzter Schluss? Müssen wir alles nachmachen, was die einmal von uns kopiert hatten?

Zugegeben auch, dass diese Lehrreform von den Studenten Selbständigkeit, Selbstdisziplin und die Fähigkeit, aus Büchern zu lernen fordert. Ich fürchte, dass manche daran scheitern würden. Na und? Es muss nicht jeder ein Universitätsdiplom haben. Wer's nicht packt, wird eben was anderes. Wissenschaftsminister zum Beispiel.



Letzte Änderungen: 03.05.2004