Editorial

Die Eiskönige

(09.01.2018) Arktis und Antarktis könnten kaum weiter auseinander liegen und trotzdem kommen dort die gleichen Bakterienarten vor. Wie das passieren konnte, erklärt die Tübinger Geowissenschaftlerin Julia Kleinteich.
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Es ist Sommer in der Antarktis. Die Schneefelder tauen und das Schmelzwasser strömt über Kies und Steine. Zwischen den Spalten erwachen zahlreiche winzige Zellen aus ihrem Winterschlaf und beginnen sich gestärkt von den steigenden Temperaturen zu teilen. Bald werden sie als dichter Rasen die ganze Landschaft bedecken und in der Sonne schimmern. In grün, rot und braun.

Und inmitten dieser Idylle: Julia Kleinteich, Geowissenschaftlerin von der Universität Tübingen, die mit einem Pfannenwender Rasen-Fladen wie Lasagne-Stücke aus dem Boden sticht und in sterile Plastiktüten packt. „Damit der Biofilm intakt bleibt“, erklärt sie und verschließt den Zip-Beutel mit Daumen und Zeigefinger.

Kleinteich ist eine von 15 Wissenschaftlern, die sich die Bakterien der beiden Polarregionen Arktis und Antarktis mal genauer angeschaut haben – aber nicht ohne Tücken.

Abgelegene Eispaläste

„Es ist sehr aufwendig in die Arktis oder auch Antarktis zu kommen und dort Feldarbeit zu machen“, sagt Kleinteich. „Es gibt wenige Forschergruppen, die das tun, und es ist logistisch ein riesengroßer Aufwand.“ Doch Kleinteich hatte es geschafft in Zusammenarbeit mit elf Einrichtungen aus sieben Ländern genug Probenmaterial für einen Prokaryoten-Vergleich zu ergattern.

Mittels Hochdurchsatzsequenzierung analysierte das Forscherkonsortium anschließend die bakterielle DNA, die für die 16S ribosomale RNA codiert – quasi der Fingerabdruck unter den Prokaryoten. Die Ergebnisse fassten die beiden Erstautoren Kleinteich und Falk Hildebrand vom EMBL in Heidelberg im Open-Access-Journal Frontiers in Ecology and Evolution zusammen (https://doi.org/10.3389/fevo.2017.00137).

Editorial

Das erstaunliche: Obwohl Arktis und Antarktis an entgegengesetzten Polen liegen und damit circa 20.000 Kilometer voneinander entfernt sind, werden sie von einer Vielzahl gleicher Bakterien bewohnt. Die Geowissenschaftler fanden Vertreter aus nahezu allen prokaryotischen Gruppen, doch ein Vertreter stach besonders hervor: „Insbesondere die Cyanobakterien sind international verbreitet“, so Kleinteich. Die Forscher sind der Meinung, dass der Grund für ihr weltweites Vorkommen damit zusammenhängt, dass die Prokaryoten gegenüber Umweltbedingungen ziemlich robust sind: Sie können über Jahre eingefroren werden, sind durch spezielle Pigmente besonders UV-beständig und tolerieren Trockenheit problemlos. Aber wie gelangten die Bakterien von einem Ort zum anderen?

Winzige Pendler

„Die untersuchten Gruppen zählen zu den ältesten Organismen auf der Erde und könnten daher immer noch global die selben Arten aufweisen“, vermutet Kleinteich. Doch ein Fakt passt zu dieser Hypothese weniger: „Die genetischen Identitäten aus den beiden Polarregionen, orientiert an gegebenen Mutationsraten, sind zu ähnlich“, meint die Geowissenschaftlerin. Demnach gehen die Forscher davon aus, dass sich bestimmte Mikroorganismen aus der Arktis und Antarktis wohl erst kürzlich in die jeweils andere Region verirrt haben. Nur wie?

Eine plausible Erklärung dafür haben die Forscher: Durch Wind und Wetter könnten sich die Mikroorganismen weltweit über die Atmosphäre verteilt haben, schreiben sie in ihrer Publikation. Aber auch Tiere und der Mensch könnten für die Verbreitung verantwortlich sein.

„Es gibt Zugvogelarten, die beide Orte zu unterschiedlichen Zeiten aufsuchen“, meint Kleinteich. Ein Beispiel ist die Küstenseeschwalbe (Sterna paradisaea). Sie brütet im Sommer in der arktischen Region und zieht sich zum Winter hin gen Süden zurück. Praktisch, denn zu dieser Zeit ist in der Antarktis ja bekanntlich wieder Sommer.


Bakterieller Biofilm-Rasen (Foto: Julia Kleinteich)

Aber auch der Mensch sorgt für eine globale Ausbreitung unterschiedlichster Bakterienarten. Zu den „Einschleppern“ gehören beispielsweise Touristen und Extremsportler, welche die Polarregionen immer häufiger frequentieren. Doch selbst Wissenschaftler sind nicht unschuldig: „Über Klamotten und wissenschaftliche Geräte können allerlei Arten von Ort zu Ort verschleppt werden, auch durch Forscher“, weiß Kleinteich. Das bestätigt auch eine Studie in PNAS aus dem Jahr 2012 (109: 4938-43). Forscher um den Ökologen Steven L. Chown hatten gezeigt, dass Touristen und insbesondere Wissenschaftler und das Hilfspersonal für Touristikbesuche vermehrt invasive Pflanzensamen in die Antarktis einschleusen – und damit die dortige Flora und Fauna massiv bedrohen. Damit Kleinteich so etwas nicht passiert, reinigt die Geowissenschaftlerin ihre Klamotten und Schuhe im Anschluss an eine Expedition gründlich.

Doch die Forscher fanden in den beiden Gebieten auch Bakterien, die für die jeweilige Region spezifisch sind. Die größte Anzahl an solchen endemischen Arten fanden Kleinteich et al. am Südpol: „Die Antarktis ist eine der Gegenden unserer Erde, die am meisten isoliert ist“, so Kleinteich. „Deshalb ist die Anzahl der Arten, die ausschließlich dort vorkommen, größer.“ Den abgeschlagenen Charakter erhält die Antarktis zum größten Teil durch ihre Stellung als separater Kontinent – ähnlich wie Australien. Doch zwei weitere Phänomene isolieren das Gebiet noch mehr: Um den Kontinent fließt eine starke Meeresströmung, die das Südpolarmeer quasi von den restlichen Wassermassen abschottet – die sogenannte Antarktische Zirkumpolarströmung. Über Wasser greift die Atmosphäre einen ähnlichen Effekt auf: Im Uhrzeigersinn wehen heftige Winde, genannt die Roaring Forties, um die Antarktis.

Frostige Reiseziele

Im Moment hat Kleinteich keine weiteren Besuche zum Südpol geplant: „Aktuell schauen wir uns vergleichend zur Arktis und Antarktis die Alpen an.“ Deshalb klettert Kleinteich momentan häufiger auf den Schweizer Gletschern umher – wie oben auf dem Titelbild zu sehen ist. Das Foto zeigt die Forscherin auf dem Silvrettagletscher im Kanton Graubünden. Die Schweizer Alpen sind für Kleinteich und Co deshalb so interessant, da sie der Arktis und Antarktis klimatechnisch besonders ähnlich sind. „Möglicherweise werden über die Atmosphäre auch Mikroorganismen bis zu den Alpen getragen“, so Kleinteich. Das möchten die Geowissenschaftler nun überprüfen. „Es könnte aber auch sein, dass wir dort ganz andere Bakterien-Gruppen finden“, ergänzt sie. Das gilt es nun herauszufinden.

Juliet Merz



Letzte Änderungen: 09.01.2018