Editorial

USA hopp, Deutschland flop: Welterste RNAi-Therapie vor Zulassung

(21.9.17) Die Nebenwirkungen sind moderat, die Heilwirkung passabel, und die erhofften Erträge immens: Nach einem Nobelpreis, einer Milliarde Dollar Forschungsausgaben und zahllosen Rückschlägen steht erstmals ein RNAi-Präparat vor der Zulassung. In den USA. Die Deutschen hingegen gucken mal wieder in die Röhre.
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Längst perdu: Am Kulmbacher Hauptbahnhof war einst Ribopharma zuhause.
© Axolabs

Das vielleicht wichtigste Grundprinzip von Wikipedia ist der „neutrale Standpunkt“. Bei den Wirtschaftsartikeln der Wikipedia ist diese angeblich so wichtige Neutralität jedoch nur selten gegeben: Die in der „freien Enzyklopädie“ präsentierten Firmenbeschreibungen beispielsweise quellen über vor schönfärberischen sowie – im Falle von fürs Unternehmen nachteiligen Fakten – lückenhaften Darstellungen. Historisch relevante Insolvenzen, Fusionen, Skandale oder Rechtsstreitigkeiten mit Arbeitnehmern oder Konkurrenten etwa werden oftmals ignoriert – und falls sie doch erwähnt sind, dann nicht selten in beschönigender und verkürzter Weise. Manchmal ist es geradezu putzig, mit anzusehen, wie besorgt die PR-Abteilungen diverser Konzerne und von ihnen beauftragte Werbeagenturen „ihre“ Wikipedia-Einträge im Sinne ihres Firmenvorstands päppeln und nichtsahnende Wikipedia-Leser für dumm verkaufen.

Editorial

Über die US-Firma Alnylam Pharmaceuticals etwa, deren deutsche Filiale „Alnylam Germany GmbH“ in München sitzt, erfährt man bei Wikipedia beispielsweise als erstes die überaus geistreiche Floskel, sie sei ein „hoch innovatives“ Unternehmen (mal ehrlich: welche Biotechfirma behauptet dies nicht von sich selbst?).

Dass Alnylam hingegen mal im bayerischen Kulmbach eine – in diesem Fall tatsächlich hoch innovative – deutsche Tochterfirma besaß, wird in der Wikipedia glatt verschwiegen. Über diesen Umstand findet sich kein einziger Satz. Dabei basiert genau jene Technologie, die Alnylam unter Langzeit-CEO John Maraganore bis heute nutzt und mit der die US-Firma viele hundert Millionen Dollar Wagniskapital eingeworben hat, doch auf jenem Know-how und auf jenen Patenten, die einst in Kulmbach von deutschen Wissenschaftlern erarbeitet (und inzwischen von US-Amerikanern verwertet) wurden.

Doch darüber, wie gesagt, findet sich in der deutschsprachigen Wikipedia nicht mal ein Halbsatz.

In der englischsprachigen Wikipedia steht immerhin, die wesentlichen Fakten jedoch komplett aussparend: „In 2003, Alnylam merged with the German pharmaceutical company, Ribopharma AG“ sowie „In 2001, Alnylam founders began using small interfering RNAs, known as siRNAs, to silence genes by targeting mRNA in mammalian cells.“ Doch auch hier: Kein Wort über die elementare, ökonomisch überlebensnotwendige Wichtigkeit der oberfränkischen Methoden und Patente.

Damals Top-Thema: die RNA-Interferenz (RNAi)

Zur Historie: 1998 hatten die späteren Nobelpreisträger aus den USA, Andrew Fire und Craig Mello, in Nature ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zur RNA-Interferenz (RNAi) veröffentlicht (und dafür 2006 den Nobelpreis erhalten) – eine Methode, um Gene in eukaryotischen Zellen aus- oder anzuschalten. Den Molekulargenetikern Stefan Limmer und Roland Kreutzer von der Uni Bayreuth gelang bald darauf an menschlichen Zellen, was Fire und Mello bislang nur in Fadenwürmern vollbracht hatten: Mittels kurzen, doppelsträngigen RNA-Molekülen schalteten die Oberfranken im Experiment nahezu beliebig humane Gene ab.

Und wenn man jedes beliebige menschliche Gen abschalten kann, dann kann man auch „schädliche“ abschalten – und so auch entsprechende Krankheiten quasi „stilllegen“. 1999 meldeten die Bayreuther Forscher das weltweit erste Patent für eine RNAi-Anwendung beim Menschen an; ein Jahr später gründeten sie im benachbarten Kulmbach die Firma Ribopharma.

Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätten sich die beiden nicht aussuchen können – mitten im Platzen der Dotcom-Blase und der damit einsetzenden Wagniskapital-Flaute war ihr Startup von Beginn an unterfinanziert. Doch dann trat die ähnlich junge Alnylam Pharmaceuticals aus Cambridge bei Boston auf den Plan – ebenfalls erst seit kurzem in der RNA-Interferenz aktiv, doch dank viel besserer Kontakte in die (amerikanische) Wagniskapitalszene mit ausreichend Startkapital und renommierten Wissenschaftsstars unterwegs; Mitgründer war dort beispielsweise der Nobelpreisträger von 1993, Phillip Sharp.

Zusammenschluss mit den Amerikanern

Um jedoch an die für die Arzneimittel-Entwicklung essentiellen deutschen Patente zu kommen (sowohl jene aus Bayreuth als auch die vom Deutschen Thomas Tuschl am MPI Göttingen erarbeiteten), fusionierten die Amerikaner mit Ribopharma. Kulmbach wurde – nein, nicht ebenbürtiger, sondern bestenfalls Juniorpartner der Amerikaner. Und die Ribopharma AG wurde zur Alnylam Europe AG.

Alnylam schloss fortan Milliardenverträge mit der Pharmaindustrie ab. Mit Novartis etwa, dem Baseler Großkonzern, begann man eine enge Forschungs- und Entwicklungskooperation. 2007 folgte der nächste, hierzulande nicht erwartete Einschnitt: Die Amerikaner verkauften ihre zum reinen Forschungslabor umfunktionierte Kulmbacher Tochter an den ebenfalls Baseler Roche-Konzern – und Alnylam Europe wurde quasi über Nacht zur Roche Kulmbach GmbH – fortan zwar noch mit Alnylam kooperierend, aber eben nun unter Schweizer Obhut.

Roche-Einstieg 2007: der Anfang vom Ende

Damit war der Anfang vom Ende eingeleitet: Auch wenn Roche der oberfränkischen Filiale den schicken Namen „Roche Center of Excellence“ verpasste und dort angeblich „neuartige, auf RNAi basierende Therapien“ entwickeln wollte – bereits 2010 kam das endgültige Aus: Der Standort Kulmbach wurde auf Weisung aus Basel hin geschlossen. Das neue Roche-Management unter Severin Schwan hatte unverständlich früh die Geduld mit der faszinierenden neuen Technologie verloren, nach nur wenigen Jahren – und das ausgerechnet in der Biotech- beziehungsweise Pharmabranche, in der man in der Medikamentenentwicklung ja eher über Jahrzehnte als über Jahre plant.

Wie auch immer: Das Thema RNAi war – vorerst – nicht mehr von Relevanz für Roche. Man verwarf damit eigene Investitionen in Milliardenhöhe sowie potenzielle, künftige Blockbuster-Therapien, die nie entstanden. Zumindest nicht in Kulmbach oder Basel.

Übrigens: Auch andere Konzerne wie Novartis und Pfizer zogen sich nahezu zeitgleich mit Roche aus der RNAi zurück, nachdem sie erst wenige Jahre zuvor Riesensummen in diese gesteckt hatten. Auch die Pharmaindustrie dreht sich nach der Mode wie die Fähnchen im Wind; derzeit ist ja CRISPR die total angesagte, hochgelobte und mit Milliarden finanzierte Technologie. Doch das nur am Rande.

In den USA läuft es hingegen 2010 weiter

Ribopharma aka Alnylam Europe aka RocheExzellenzKulmbach war also 2010 endgültig füsiliert, doch Alnylam USA hingegen machte stur weiter, mit amerikanischem Geld sowie deutschem Know-how und Patenten - aber eben ohne deutsche Beteiligung. Heute kooperiert Alnylam Therapeutics, nach wie vor in Cambridge/Massachusetts beheimatet, unter anderem mit der Sanofi-Tochter Genzyme, dem US-Konzern Merck, und anderen.

Bereits 2010, also im Jahr des Roche-Ausstiegs, wurden die bis dahin nur im Tierversuch getesteten RNAi-Therapien erstmals auch an Menschen ausprobiert, und jetzt, im September 2017, ist’s offenbar soweit: Das erste RNAi-Medikament – Patisiran gegen die Hereditäre ATTR-Amyloidose (was das ist, wird nachher erklärt) – hat erstmals eine späte klinische Phase erfolgreich absolviert. Binnen Tagen schoss Alnylams Aktienkurs durch die Decke: plus 37 Prozent allein von Mittwoch auf Donnerstag (von knapp 68 auf 93 Euro).

Das RNAi-Präparat (chemisch gesehen ist's eine siRNA, also ein recht kurzes RNA-Molekül) wurde in Zusammenarbeit mit dem französischen Sanofi-Konzern entwickelt und in der erwähnten Phase-III-Studie („APOLLO-Trial“) erfolgreich an insgesamt 225 Patienten getestet. Laut Unternehmen seien alle primären und sekundären Endpunkte erreicht worden („Investigational RNAi Therapeutic Patisiran Meets Primary and All Secondary Endpoints, with Highly Significant Reduction In Neuropathy Progression and Improvement in Quality of Life.”)

Zulassung in greifbarer Nähe

Eine Zulassung ist damit zwar noch nicht sicher, aber doch recht wahrscheinlich geworden – zumal die bislang einzige, sehr teure Therapie darin besteht, den erbkranken Patienten die Leber eines nicht betroffenen Menschen zu transplantieren. Läuft alles nach Plan, könnte das Mittel in den USA bereits Ende 2017 und in Europa im Frühsommer 2018 zur allgemeinen Anwendung verfügbar sein – und damit das weltweit erste kommerzielle, auf RNAi basierende Medikament.

Bei erblichen Amyloidosen werden lebensnotwendige Proteine falsch gefaltet und dadurch in veränderter Struktur hergestellt. In der Folge ist ihre Funktion gestört und/oder sie sind im Blut unlöslich. Im konkreten Fall einer ATTR-Amyloidose ist das in der Leber gebildete Bluteiweiß Transthyretin (TTR) verändert, was zu Amyloidablagerungen in Augen, Nieren, Herz und auch im Nervensystem – und letztlich zum Krankheitsbild der „Familiären Amyloiden Polyneuropathie“ (FAP) führt.

Bisher nur per Transplantation behandelbar

Bei der einzigen bisher möglichen Therapie-Option, einer Lebertransplantation, wird dem Patienten Gewebe mit funktionierenden, nicht mutierten TTR-Genen übertragen. Dagegen wird bei einer nun in Reichweite liegenden RNAi-Behandlung per Infusion eine spezielle siRNA verabreicht, die in den betroffenen Leberzellen das mutierte Gen blockt beziehungsweise ausknockt und so die Bildung des zu den Ablagerungen führenden, falsch gefalteten Proteins verhindert.

Ob die neue (und dann wohl Standard-)Therapie im Falle einer erfolgreichen Zulassung wirklich billiger sein wird als eine ausgewachsene Lebertransplantation, wird sich zeigen. Gerade im Falle seltener Krankheiten wie der ATTR-Amyloidose geraten die neuen Biotechmedikamente meist unglaublich teuer, da ja nur wenige „Abnehmer“ zur Verfügung stehen (in diesem Fall weltweit rund 10.000 Patienten) und die Firmen ihre Entwicklungskosten gegenfinanzieren wollen und müssen. Jahresbehandlungskosten von mehreren 10.000, manchmal sogar 100.000 Euro pro Patient sind in den letzten Jahren zunehmend zur, von Krankenkassen ungeliebten, Normalität geworden. Einige US-Analysten spekulieren derzeit, Alnylam könne ab 2020 allein mit Patisiran jährliche Zusatzeinnahmen von rund 400 Millionen Dollar ausweisen, andere sprechen sogar von mehr als einer Milliarde Dollar pro Jahr. Beim aktuellen Aktienkurs von 93 Euro ist Alnylam Pharmaceuticals rund neun Milliarden Euro wert.

War Roches RNAi-Ausstieg anno 2010 übereilt?

Roche unter seinem obersten Geschäftsführer Severin Schwan hingegen muss sich fragen lassen, ob es wirklich klug war, im Jahr 2010 das teuer erworbene Kulmbacher Know-how samt den daran beteiligten Wissenschaftlern aus unprofessioneller Ungeduld wegzuwerfen.

Und der Laborjournal-Redakteur fragt sich schon länger, wieso es die deutsche Pharmaindustrie und die dauernd von Innovation und Leuchttürmen predigenden Bundespolitiker partout nicht schaffen, technologische Hochkaräter und weltweit führende Wissenschaftler im Land zu behalten und mit deren Know-how etwas Großes auf die Beine zu stellen.

Das schaffen bislang nur die Amerikaner. Wieso eigentlich?

Winfried Köppelle



Letzte Änderungen: 15.10.2017