Editorial

Kastriert und ausgesaugt

(18.7.17) Wurzelkrebse parasitieren an anderen Krebsen und berauben sie ihrer Fortpflanzungs­fähigkeit. Dabei steigt ihr eigener Fortpflanzungserfolg mit der Größe ihres Wirts – wie ein von München koordiniertes Team jetzt dokumentierte.
editorial_bild

Wurzelkrebse (Rhizocephala) gehören wahrscheinlich zu den ungewöhnlichsten Parasiten, die das Tierreich zu bieten hat. Die mit den Seepocken verwandten Krebstiere parasitieren an verschiedenen Arten von Zehnfußkrebsen (Decapoda) wie Einsiedlerkrebsen und Garnelen. Dabei dringen sie in den Körper ihrer Wirte ein und bilden dort ein verzweigtes, wurzel- oder pilzähnliches Netzwerk, mit dem sie die Nährstoff-Ressourcen des Wirts anzapfen. Zwar tötet dies den Wirt nicht, doch verliert er die Fähigkeit zur eigenen Fortpflanzung – ein Fall von parasitärer Kastration. Stattdessen nimmt der Wurzelkrebs den Platz der Reproduktionsorgane ein und nutzt die Energie, die dem Wirt normalerweise für die Vermehrung zur Verfügung steht, für das eigene Wachstum samt Fortpflanzung. Für die „Kastrierkrebse“ sind deshalb Zehnfußkrebse mit ihrer langen Lebensspanne und ihrem hohen reproduktiven Aufwand die perfekten Wirte. Sogar deren Verhalten können die Parasiten manipulieren – etwa indem sie die Erneuerung der Cuticula durch Häutung unterdrücken oder den Wirt dazu bringen, die fremden Eier zu beschützen. 

Editorial

Wurzelkrebse bestehen aus zwei Körperteilen, von denen nur die äußere, sackartige Struktur (Externa) sichtbar ist. Das vollständig im Wirt liegende Wurzelsystem (Interna) bleibt dem Betrachter – und lange Zeit auch den Wissenschaftlern. Kürzlich hat ein Team um Christina Nagler von der Ludwig-Maximilians-Universität in München einen Weg gefunden, das Volumen der Wurzelkrebse zu bestimmen, ohne die betroffenen Tiere zu töten (PLOS One 12: e0179958). Dazu verwendeten die Forscher das bildgebende Verfahren der Mikro-Computertomographie und rekonstruierten aus den Daten dreidimensionale Bilder. So konnten erstmals Zusammenhänge zwischen der Körpergröße von Wirt und Parasit sowie dem Fortpflanzungserfolg der Parasiten ermittelt und dadurch die evolutionären Strategien der Wurzelkrebse aufgedeckt werden.

Eingeschränkte Bewegungsfreiheit

Wurzelkrebse lassen sich in zwei Gruppen mit unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien einteilen. Die sogenannten kentrogoniden Wurzelkrebse zeigen einen ausgesprochen komplexen Lebenszyklus und durchlaufen nach dem Schlüpfen ein freies Larvenstadium. Die beweglichen Nauplius-Larven entwickeln sich über mehrere Stadien zu einer Cypris-Larve, deren weibliches Geschlecht einen Wirt sucht und infiziert. Dazu häutet sich die Larve zu einer als Kentrogon (griechisch „Stichelbildner“) bezeichneten Form, die mit einem kanülenartigen Pfeil in die Hämolymphe des Wirts eindringt und dort ein mehrzelliges, bewegliches Larvenstadium (Vermigon) freisetzt. Dieses bildet anschließend das Wurzelgeflecht sowie später an der Außenseite des Wirts die sackartige Ausstülpung mit den Fortpflanzungsorganen des Parasiten. Die männlichen Cypris-Larven setzen sich für die Befruchtung auf die Externa und bringen ein spezielles, sexuell reifes Larvenstadium in die Samentasche der Externa ein – das Trichogon. 


Der Wurzelkrebs Sylon hippolytes (rote sackähnliche Struktur an der
Unterseite des Wirts) parasitiert eine Garnele (Pandalina brevirostris). 


Die andere Gruppe der akentrogoniden Wurzelkrebse weist einen deutlich reduzierten Lebenszyklus auf und besitzen weder ein freies Larvenstadium noch ein Kentrogon oder Trichogon. Stattdessen schlüpfen aus den Eiern direkt Cypris-Larven, deren weibliche Form ohne Umwandlung zum Kentrogon undifferenzierte Zellen in den Körper des Wirts injiziert. Zur Befruchtung spritzen die männlichen Cypris-Larven Samenzellen in die Samentaschen der Externa. Das Fehlen eines beweglichen Larvenstadiums reduziert den Räuberdruck auf die Larven und erhöht somit ihre Überlebensfähigkeit. Dafür ist zwar das Verbreitungsgebiet der Larven eingeschränkt, doch auch das kann ein Vorteil sein, wenn man auf einen beweglichen Wirt angewiesen ist. Kentrogonide Wurzelkrebse machen die größeren Verluste unter ihren beweglichen Larven mit einer verlängerten Reproduktionsspanne mit mehreren Brutzyklen wett. 

Größer ist besser

Als Vertreter der kentrogoniden Wurzelkrebse untersuchten die Münchner in Kooperation mit Wissenschaftlern aus Greifswald, Norwegen und Dänemark vier Arten der Gattung Peltogaster, die an Einsiedlerkrebsen der Gattungen Pagurus und Discorsopagurus parasitieren. Als Vergleich diente der akentrogonide Wurzelkrebs Sylon hippolytes, der die Garnele Pandalina brevirostris befällt. Bei beiden Gruppen zeigte sich ein einfacher Zusammenhang der Körpergrößen: Je größer der Wirt, desto größer der Parasit. Diese Beziehung galt sowohl im Hinblick auf die gesamte Körpergröße der Wurzelkrebse, als auch in Bezug auf das Volumen des äußeren, sichtbaren Teils des Parasiten. Außerdem korrelierte bei den Wurzelkrebsen das Eivolumen positiv mit der Eizahl und dem Volumen der Externa als Sitz der Fortpflanzungsorgane. Somit ist die Wirtsgröße indirekt auch ein Indikator für die Fruchtbarkeit des Parasiten. 


 Dreidimensionales Model von dem parasitischen Wurzelkrebs (Sylon hippolytes) an
einer Garnele (Pandalina brevirostris); inneres Wurzelgeflecht des Parasiten gelb markiert,
Eier des Parasiten türkis markiert, Reproduktionsorgan des Parasiten grün markiert.


Ein Wurzelkrebs (Peltogaster curvatus, siehe Pfeil) parasitiert
einen Einsiedlerkrebs (Pagurus bernhardus).


Die Fortpflanzungsstrategie der kentrogoniden Peltogaster-Arten mit ihrer längeren Larvalentwicklung, einer Lebensdauer von bis zu fünf Jahren und größeren, je nach Geschlecht unterschiedlich geformten Eiern, lässt sich einer K-Strategie zuordnen. K-Strategen entwickeln sich typischerweise langsam, produzieren weniger Nachwuchs und besitzen größere Körper mit einem meist deutlichen Sexualdimorphismus. Mit diesen Eigenschaften sind sie vor allem unter stabilen Umweltbedingungen erfolgreich. Wahrscheinlich haben die Wurzelkrebse diese Strategie bereits von ihren Vorfahren übernommen – den sesshaften Seepocken, die allgemein unter sehr stabilen Umweltbedingungen leben. 

Im Gegensatz dazu können sich r-Strategen durch ihre schnelle Entwicklung und die hohe Reproduktionsrate besser an wechselnde Umweltbedingungen anpassen. Diese Strategie trifft auf den akentrogoniden S. hippolytes zu, der eine schnellere Larvalentwicklung durchmacht als Peltogaster, nur etwa ein Jahr lang lebt, mehr und kleinere Eier produziert und dabei keinen Sexualdimorphismus zeigt. Offensichtlich hängt der Erwerb einer r-Strategie mit der Umstellung von kentrogonider zu akentrogonider Lebensweise zusammen und hat nur einmal innerhalb der Gruppe der Wurzelkrebse stattgefunden. Dies bedeutete für die Wurzelkrebse wahrscheinlich einen Vorteil, da sie ein breiteres Spektrum an Wirten befallen und auch unter wechselnden Umweltbedingungen bestehen konnten.

Larissa Tetsch

(Alle Fotos: Christina Nagler, LMU München)



Letzte Änderungen: 18.08.2017