Editorial

Medizin-Nobelpreis 2016: Zelluläres Müll-Recycling

(3.10.16) Wir geben zu: Den Autophagie-Pionier Yoshinori Ohsumi vom Tokyo Institute of Technology hatten wir als frischgebackenen Nobelpreisträger nicht ganz oben auf unserer Liste...
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© Tokyo Institute of Technology

Auf Twitter hatten wir uns in den letzten Tagen ein klein wenig beteiligt an den ach so beliebten Spekulationen, wer denn in diesem Jahr „dran sein“ könnte. Hatten unter anderem gemutmaßt, dass Genome Editing via CRISPR und Co., wenn überhaupt schon in diesem Jahr, dann wohl eher für den Chemie-Nobelpreis in Frage käme (übermorgen wissen wir das!). Hatten Jeffrey Gordon ins Spiel gebracht, der maßgeblich klar machte, wie wichtig die Rolle des Darm-Mikrobioms für einen gesunden menschlichen Stoffwechsel wie auch dessen Immunologie ist. Hatten sinniert, wer von den vielen „Vätern“ der Optogenetik tatsächlich einen möglichen Preis entgegennehmen könnte. Und hatten auch noch mal an den alten Sir Michael Berridge erinnert, der bereits 1969 den Startschuss zur Entschlüsselung des Calcium-Signalwegs abgab.

Alles falsch. Seit dem späten Vormittag wissen wir: das Thema, das Stockholm in diesem Jahr mit Yoshinori Ohsumi würdigt, ist die Autophagie. Das System also, mit dem Zellen alte, überflüssige oder nicht mehr funktionstüchtige Bestandteile kontrolliert selbstverdaut – und oftmals für neue Zwecke recycled.

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Recycling-bewusste Zellen

Das Phänomen dieser ökonomisch und „ökologisch“ sinnvollen zellulären Müllentsorgung kannte man bereits seit den 1960ern. Barbara Hobom beschrieb die Autophagie in der FAZ vor einigen Jahren etwa folgendermaßen:

Ein bislang wenig beachtetes biologisches Phänomen, die als Autophagie bezeichnete Selbstverdauung, wirkt wie ein Bindeglied zwischen Leben und Tod. So handeln Zellen, die ihre eigenen Proteine oder ganze Organellen verdauen, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen. Es ist eine ganz besondere Überlebensstrategie, die in der Entwicklung, aber auch zur Überbrückung von Hungerzeiten eine entscheidende Rolle spielt. Fehler in diesem Prozess können die verschiedensten Krankheiten zur Folge haben, eine erhöhte Infektionsanfälligkeit ebenso wie Nervenleiden, Herzkrankheiten oder Krebs.

Die Selbstverstümmelung beginnt in speziellen Organellen, den Autophagosomen. Hierbei handelt es sich um Vesikel mit einer doppelten Membran, die Proteine oder auch Organellen wie die Mitochondrien aus dem Zellplasma in ihr Inneres einschließen. Die Autophagosomen verschmelzen dann mit Lysosomen, den reich mit Enzymen ausgestatteten, für die Verdauung zuständigen Organellen der Zellen. In den entstandenen "Bläschen", den Autophagolysosomen, werden die Partikeln schließlich abgebaut und die Grundbausteine zur Wiederverwertung bereitgestellt.“

Doch danach passierte erstmal lange nichts Entscheidendes auf dem Weg zur Entschlüsselung von Steuerung und Funktionsweise der Autophagie. Bis in den frühen 1990ern der Hefe-Forscher Yoshinori Ohsumi das Feld betrat. Dies war durchaus ungewöhnlich, denn gerade in der kleinen Hefe sind viele subzelluläre Strukturen nur schwer unter dem Mikroskop zu beobachten – so dass man sich bis dahin gar nicht mal sicher war, ob der Einzeller überhaupt Autophagie betreibt.

Müllansammlung ohne Verdau

Mit einem tatsächlich bahnbrechenden Schlüsselexperiment beseitigte Ohsumi diese Zweifel. Und fast noch wichtiger: Er schuf damit zugleich das experimentelle System zur weiteren Aufdeckung der Autophagie-Mechanismen. Ohsumi und seine Mitarbeiter machten nichts anderes, als Protease-defiziente Hefe-Mutanten zu kreieren, die sie anschließend durch eine „Fastenkur“ in den autophagischen Selbstverdau trieben. Da deren Vakuolen jedoch die verdauenden Proteasen fehlten, füllten sie sich innerhalb weniger Stunden mit kleinen Autophagosom-Vesikeln, die die Mutanten jetzt natürlich nicht weiter abbauen konnten. Autophagie war damit auch in Hefe bewiesen.

Zugleich konnten sich Ohsumi et al. mit der Verdau-Mutante umgehend auf den Weg machen, um über Mutagenese-Screening weitere Gene zu identifizieren, deren Produkte die Autophagie maßgeblich mitsteuern. Denn wenn zusätzlich noch wichtige frühe Steuergene ausfallen, so deren Hypothese, dann sollte die Mutante letztlich auch keine Autophagosomen mehr in der Vakuole akkumulieren können. Und wieder ging das Konzept auf: Bereits ein Jahr später konnte Ohsumis Gruppe die ersten „Autophagie-Gene“ publizieren; und in den Folgejahren setzten sie auf diese Weise die gesamte Kaskade der Steuerproteine zusammen, die die einzelnen Stadien der Autophagosom-Bildung einleiten und regulieren.

Wie wenig „heiß“ das Thema bis dahin in der Biomedizin jedoch war, wird unter anderem auch dadurch dokumentiert, dass Ohsumi und seine Kollegen diese Schlüsselbefunde keineswegs in den absoluten Top-Journals a la Nature, Science oder Cell platzieren konnten. Vielmehr erschien das Proof-of-Concept-Paper im Journal of Cell Biology (119: 301-11) und der Artikel, in dem Ohsumi et al. die ersten Autophagie-defekten Mutanten vorstellten, in den FEBS Letters (333: 169-74).

Wie in Hefe, so beim Mensch

Die Aufmerksamkeit für Ohsumis Studien wuchs jedoch rapide, als nachfolgend klar wurde, dass der kontrollierte Selbstverdau auch in unseren Zellen nach denselben Mechanismen funktioniert wie in Hefe. Zumal sich bald darauf auch offenbarte, dass in uns „Mega-Vielzellern“ die Autophagie tatkräftig bei einer ganzen Reihe von teilweise übergeordneten Prozessen mitmischt: So etwa bei Energiestoffwechsel, Stressantwort, Infektionsabwehr, Embryoentwicklung und Zelldifferenzierung, Reparatur von Zellschäden, Alterungsprozessen,... Genauso wie umgekehrt eine gestörte Autophagie inzwischen mit der Entstehung ganz verschiedener Krankheiten in Verbindung gebracht wird – insbesondere mit altersbedingtem Parkinson oder Typ-2-Diabetes, aber auch mit der Entstehung bestimmter Tumore.

Keine Frage also, dass der Autophagie-Pionier Yoshinori Ohsumi den Nobelpreis klar verdient hat. Und auch dass Ohsumi ihn für dieses Thema als einziger Preisträger bekommt, scheint unstrittig. Schließlich bekam er in diesem Jahr bereits den Wiley Prize in Biomedical Sciences und den Dr. Paul Janssen Award for Biomedical Research – jeweils alleine.

Ralf Neumann

 



Letzte Änderungen: 08.12.2016