Editorial

Heilsame Gifte

(4.7.16) Die Schweizer Firma Atheris SA hat sich auf die Entdeckung und Validierung bioaktiver Peptide aus Tiergiften spezialisiert. Laborjournal sprach mit Firmengründer und CEO Reto Stöcklin.
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Reto Stöcklin
© T. Parel/Atheris SA

 „Etwa 550 000 Tierarten produzieren Cocktails aus hochwirksamen und selektiven Giftstoffen“, erläutert der Biochemiker. Seit 1995 betreibt er eine Datenbank mit giftigen Tieren und ihren Giftstoffen, die laufend ergänzt wird. Auch der Name seiner Firma ist von einer Schlangengattung, den Buschvipern, übernommen.

Tiergifte lähmen, beeinflussen die Funktion des Herzens und des Kreislaufs und zerstören Gewebe. So bieten sie Schutz vor dem Gefressenwerden, vor Konkurrenten und ermöglichen das Fangen von Beute. Atheris SA, zuvor Atheris Laboratories, mit Sitz in Plan-les-Ouates bei Genf bietet als Auftragsforschungslabor Serviceleistungen für die industrielle Drug Discovery an. Unter dem Namen „Melusine“ stellt die Biotechfirma Kits mit vorfraktionierten Giften her, mit denen sich biologisch wirksame Substanzen in tierischen Giften näher eingrenzen lassen, beispielsweise über Hochdurchsatz-Screening.

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„Wir haben Sammlungen mit über 1500 natürlichen Giftstoffen, teilweise von bisher unerforschten Tierarten“, so Stöcklin. Eine Zusammenarbeit mit AMGEN im Bereich der Schmerzforschung führte kürzlich zur Entdeckung eines Antagonisten spannungsabhängiger Natriumkanäle aus dem Gift einer Vogelspinne [1]. Ist die Aminosäuresequenz eines bioaktiven Peptids einmal bekannt, kann es synthetisch hergestellt werden. Unter dem Namen „Melusine“ produziert Atheris SA auch Bibliotheken mit solchen synthetischen Peptiden für Bioassays und unterstützt die Medikamentenentwicklung mit Datenbanken virtueller Gifte und bioaktiver Peptide. Die Forscher des Unternehmens haben zudem Algorithmen entwickelt, die die naturnahe Optimierung von Peptid- und Proteinwirkstoffen erlauben.

„Der Vorteil von Peptidwirkstoffen aus Giften ist, dass sie in der Regel löslich, potent und spezifisch sind. Sie sind zudem unempfindlich gegenüber Proteasen und damit wenig immunogen. Sie müssen allerdings meistens injiziert werden und ihre Herstellung ist relativ teuer“, erläutert der Unternehmer.

Giftforschung neben der Doktorarbeit

Zu den Tiergiften ist er im Urlaub in Ägypten vor fast 30 Jahren gekommen, als er mit Freunden bei den Pyramiden auf Schlangenjagd ging. „Damals war ich noch Student und habe im Labor von Robin Offord an der Universität Genf versucht, Spuren von Insulin aus menschlichem Blutplasma zu extrahieren. Als ich nach dem Urlaub das Gift zweier Schlangen mit dem Massenspektrometer untersucht habe, fand ich eine komplexe Mischung aus Dutzenden Peptiden und Proteinen vor, die gegen zahlreiche Zielmoleküle gerichtet sind. Das hat mich fasziniert“, berichtet der Giftforscher.

Offord erlaubte ihm, während seiner Doktorarbeit einen Tag in der Woche mit der Untersuchung von Schlangengift zu verbringen – solange die Dissertation nicht darunter leide. „Mein erster wissenschaftlicher Erfolg auf dem Gebiet der Giftforschung war eine Koautorschaft auf einer Publikation über ShK, einen Kaliumkanal-Blocker aus der karibischen Seeanemone Stichodactyla helianthus. Das modifizierte Molekül wird derzeit in Phase II von einer Firma für die Behandlung von Autoimmunerkrankungen getestet“, berichtet Stöcklin [2]. Inzwischen bringt es der Unternehmer und Forscher auf Dutzende giftbezogene Veröffentlichungen. Seine Interessen hat er auf weitere Schlangenarten, Bienen, Hummeln, Skorpione, Kegelschnecken und Vogelspinnen ausgedehnt.

Wirkstoffkandidaten aus Meeresschnecken

Von 2007 bis 2012 koordinierte der Biochemiker das EU-finanzierte CONCO-Projekt mit 19 weiteren internationalen Teilnehmern, darunter auch das US-amerikanische J. Craig Venter Institute. Ziel des Projekts war es, bioaktive Peptide aus dem Giftcocktail der Fische jagenden Kegelschnecke Conus consors zu identifizieren und für die Entwicklung von Medikamenten nutzbar zu machen. Dabei kamen genomische, transkriptomische und metabolomische Methoden zum Einsatz.

Als wissenschaftlicher Taucher sammelte Stöcklin die nachtaktiven Kegelschnecken vom Meeresboden auf, sowohl vor Neukaledonien und Tahiti als auch vor den entlegenen Chesterfield und Marquesas Inseln im Pazifik. Die Tiere schießen beim Jagen mit Gift gefüllte, harpunenartige Zähne auf ihre Beute ab. Letztere wird dadurch in weniger als einer Sekunde gelähmt und lässt sich problemlos verschlingen. Die Giftstoffe der Kegelschnecken, die sogenannten Conotoxine, bestehen aus Peptiden, die an Rezeptoren, Ionenkanälen und Transportern angreifen.

Das Sammeln der Tiere sei problemlos gewesen, so Stöcklin. „Riskanter war es, hunderte Kilometer entfernt von der nächsten menschlichen Besiedlung auf einem Schiff zu leben. Da sollte man keinen Tauch- oder sonstigen Unfall haben.“ Auch seine hautnahe Begegnung mit einem Hammerhai verlief zum Glück glimpflich. Vor den Marquesas-Inseln entdeckten die CONCO-Forscher eine neue Kegelschneckenart (Conus conco), die bisher unbekannte Giftstoffe produziert. Darüber hinaus entwickelten Atheris-Wissenschaftler „ConoDictor“, ein Softwaretool zur Einteilung der Conotoxine in Superfamilien anhand ihrer Aminosäuresequenz. Ein weiteres Resultat des CONCO-Projekts war das μ-Conotoxin CnIIIC, ein Muskelrelaxans, das nun in Antifalten-Kosmetik zum Einsatz kommt.

Erfolgreiche Vorbilder

Gifte aus der Natur werden seit Jahrzehnten zur medizinischen Behandlung eingesetzt. Anfang der 1940er wurde das aus einer südamerikanischen Liane stammende Nervengift Tubocurarin als Muskelrelaxans in der Chirurgie eingeführt. Das Alkaloid lähmt vorübergehend die quergestreifte Muskulatur, indem es in der neuromuskulären Endplatte die postsynaptischen nikotinischen Rezeptoren für Acetylcholin blockiert. Peptide im Gift der südamerikanischen Lanzenotter Bothrops jararaca führten zur Entwicklung des blutdrucksenkenden Mittels Captopril, das Anfang der 1980er auf den Markt kam. Seine Wirkung beruht auf der Hemmung des Angiotensin-konvertierenden Enzyms, das Angiotensin I in Angiotensin II umwandelt.

Komponenten des Giftes der nordamerikanischen Zwergklapperschlange Sistrurus miliarius barbouri und der asiatischen Gemeinen Sandrasselotter Echis carinatus dienten als Modell für die Entwicklung der Thrombozyten-Aggregationshemmer Eptifibatid und Tirofiban. Diese hemmen die Blutgerinnung, indem sie an das Glykoprotein IIb/IIIa auf aktivierten Blutplättchen binden. Ziconotid zur Behandlung von starken chronischen Schmerzen wurde 2004/2005 in den USA und Europa zugelassen. Das zyklische Peptid ist einem Bestandteil des Giftes der marinen Kegelschnecke Conus magus nachempfunden. Es muss direkt in die Spinalflüssigkeit injiziert werden und wirkt wesentlich stärker als Morphium [3].

Forschungsobjekt mit Starappeal

Seit 2004 organisiert Stöcklin den Kongress „Natural Peptides to Drugs“ im schweizerischen Zermatt. Ziel des Meetings ist es, den Austausch unter Experten für Peptidhormone, Toxine, Immunmodulatoren und antimikrobielle Peptide zu fördern. Er unterrichtet auch regelmäßig, um den wissenschaftlichen Nachwuchs für sein Thema zu begeistern, und beschäftigt Studenten und Doktoranden in seiner Firma. Sein neuestes Projekt ist ein Peptid aus dem Gift der malaysischen Riesenkrabbenspinne Heteropoda davidbowie. Sie wurde 2008 von Peter Jäger, einem Spinnenexperten am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, erstmals beschrieben. Mit seiner orange-gelben Behaarung weckt das 10 bis 15 Zentimeter große Tier Erinnerungen an David Bowies „Spiders from Mars“. Doktorandin Vera Oldrati von Atheris hat mit weiteren Wissenschaftlern der Firma das Gift der Spinne analysiert und das Transkriptom der Giftdrüsen untersucht. Die Forscher fanden 136 Peptide. Eines davon hat Botox-artige Aktivität und soll eines Tages als Bestandteil einer faltenglättenden Gesichtscreme auf den Markt kommen.

Die Mittel für die weitere Erforschung und Entwicklung will Stöcklin nun über Crowdfunding einwerben. Mitteln aus öffentlicher Hand steht der Unternehmer inzwischen skeptisch gegenüber, mit Ausnahme der Förderung durch die schweizerische „Kommission für Technologie und Innovation KTI“ für Start-Ups, die Schweizer Initiative in Systembiologie „SystemsX.ch“ und andere, ähnliche Programme [4], [5]. „Die Teilnahme an öffentlich geförderten Projekten stellt eine große Investition für unsere kleine Firma dar. Der akademische Anteil und der Druck sind groß und von den zugesprochenen Mitteln bekommen wir ohnehin höchstens die Hälfte“, so Stöcklin. Der Giftexperte kann sich auch gut vorstellen, zukünftig noch weitere Firmen zu gründen. Für weitere Projekte fehlt es nicht an Auswahl. Wie wäre es zum Beispiel mit bioaktiven Peptiden aus dem Gift von Heteropoda udolindenberg oder Heteropoda ninahagen?

 

Bettina Dupont


 Quellen:

[1] Murray J.K. et al.(2015). Engineering potent and selective analogues of GpTx-1, a tarantula venom peptide antagonist of the Na(V)1.7 sodium channel. J Med Chem. 58:2299-314. doi: 10.1021/jm501765v. Epub 2015 Feb 19.

[2] Castañeda O. et al. (1995). Characterization of a potassium channel toxin from the Caribbean Sea anemone Stichodactyla helianthus. Toxicon 33:603-13.

[3] Harvey A.L. (2014). Toxins and drug discovery. Toxicon 92:193-200. doi: 10.1016/j.toxicon.2014.10.020. Epub 2014 Oct 29.

[4] http://www.kti.admin.ch/kti/de/home/unsere-foerderangebote/fuer-start-ups.html

[5] http://www.systemsx.ch/de/systemsxch/systembiologie/


 



Letzte Änderungen: 25.08.2016