Editorial

Kommen zwei Vögel geflogen

(2.7.16) Zwei einfache Tauben, die vor dem Institutsfenster ihr Nest zu bauen versuchen, können bei der Belegschaft hinter dem Fenster bisweilen komische Reaktionen auslösen. Das hat jedenfalls unsere (andere) TA frisch erlebt.
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Freitagmorgen gegen 8:00 Uhr steckt meine Kollegin den Kopf zur Tür herein. „Hast du einen Moment Zeit? Ich muss dir was Komisches zeigen!“

Was sie mir durch das Sichtfenster der Feuertür zeigt ist auf den ersten Blick ziemlich profan. Eine Taube. Eine Ringeltaube, die reglos in einer Ecke unserer Feuertreppe kauert. 

„Ist sie tot?“ stelle ich die naheliegende Frage.

Die Taube hebt den Kopf.

 „Glaube ich nicht“, antwortet meine Kollegin.

Unter dem Bauch des Vogels ragen ein paar verquere Zweige hervor. Liebevoll verästelt und fest in die Maschen des Feuertreppenbodens verkeilt.

„Baut die da etwa ein Nest?“ 

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Meine Frage wird umgehend durch eine zweite Ringeltaube beantwortet, die mit einem weiteren Zweiglein im Schnabel zur Landung ansetzt. Sie überreicht ihn der anderen und hebt gleich wieder ab.

„Sieht so aus.“

Jetzt ist es eindeutig. Familiengründung vor unserer Tür  zur Feuertreppe.

Faszinierend. Der regelmäßige Publikumsverkehr hinter der Scheibe und auf dem Erdboden darunter hält die Tauben nicht vom Brüten auf unserer Feuertreppe ab. Wer gewöhnlich in hochfrequentierten Parks und Gärten brütet, sieht das wohl nicht so eng.

„Die können da doch nicht bleiben. Was machen wir wenn´s brennt?“, bringt mich meine Kollegin wieder auf die aktuelle Problematik zurück.

„Wenn es brennt, haben wir wahrscheinlich andere Sorgen als brütende Vögel“, wende ich ein. Jetzt brennt es aber gerade nicht, und keine von uns beiden will die Vögel aus feuerschutztechnischen Gründen verscheuchen. 

Diese Einigkeit gilt allerdings nicht für das ganze Kollegium.

Die Arbeitsgruppe ist in zwei Fraktionen gespalten.

„Die Vögel haben uns erwählt. Sie vertrauen uns. Vielleicht wurde ihr altes Nest zerstört, und sie planen bei uns einen Neuanfang. Ein neues kleines Familienglück auf unserer Feuertreppe“, säuselt die romantisch verklärte Fraktion.

„Gute Güte, es sind Ringeltauben. Die sind nicht gerade vom Aussterben bedroht“, konstatieren die Realisten.

Unser Professor jedenfalls hat ein Herz für die Vögel. Eine Stunde später klebt innen an der Feuertür ein von ihm persönlich unterzeichneter Zettel: Bitte nicht an die Scheibe klopfen, wir brüten!

Naja, ich persönlich brüte zwar nicht, trotzdem eine rührende Geste.

Der Zettel wird streng befolgt. An die Scheibe klopfen sehe ich keinen, allerdings ist das Nest keine drei Stunden später komplett verschwunden. Die Tauben auch.

Jemand hat nicht nur die Vögel vertrieben, sondern auch dafür gesorgt, dass sie nicht zurückkommen. 

Da hat er allerdings den Starrsinn der Vögel unterschätzt.

Im Lauf der Woche starten die beiden immer wieder neue Brutversuche. Vergeblich. Kreuzen sich mehr als zwei Zweige, schlägt der anonyme Nesträuber jedes Mal gnadenlos zu.

Obwohl dadurch unser unverstellter Fluchtweg im Brandfall gewährleistet bleibt, führen die andauernden Zwangsräumungen im Kollegium zu ähnlich kontroversen Diskussionen wie zuvor das gesamte Brutvorhaben. Eine Kurzfassung:

„Doofe Viecher! Die kapieren es einfach nicht.“

„Wieso? Wie oft wiederholen wir ein Experiment obwohl wenig Aussicht auf Erfolg besteht?“

„Das ist was anderes.“

War es das? Ich bin mir da nicht sicher. Offenbaren sich hier nicht ungeahnte Parallelen zwischen den Vögeln und uns? Nicht nur in Bezug auf die wissenschaftliche Arbeit, sondern aufs ganze Leben? 

Steckt nicht in jedem Menschen etwas, das ihn an den noch so unwahrscheinlichen Erfolg glauben und es ihn allen Rückschlägen zum Trotz immer wieder aufs neue versuchen lässt? Verdanken wir der Ringeltaubenmentalität mancher Menschen nicht einige der größten Erfindungen der Menschheit?

Oder anders ausgedrückt: Sind wir nicht alle ein bißchen Ringeltaube? 



Letzte Änderungen: 17.08.2016